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21. September

Jonesboro, IL - Cairo, IL

Tages-Km: 70
Gesamt-Km: 2.323
Streckenprofil: hügelig, wellig, flach
Wetter: bedeckt, sonnig
Temperatur: 17 / 28° C
Luftfeuchtigkeit: 95%



„Welcome Mrs. Chance …“

Die Strecke von Jonesboro nach Cairo ist das Kontrastprogramm zur gestrigen Etappe. Vom Mississippi River ist weit und breit nichts zu sehen. Kaum befahrene Nebenstraßen? Von wegen. Die „Route 127“ ist zwar nicht allzu stark befahren, dafür aber in erster Linie von Trucks, die Kies, Schrott oder Holz in Lichtgeschwindigkeit von A nach B transportieren. Ich habe erfahren, dass man die meisten Fahrer nach Tonnage und nicht nach Stunden bezahlt. Dementsprechend rasen sie auf den schmalen Straßen dahin wie die Irren. Der Rückspiegel war heute unersetzlich. Des öfteren bin ich sicherheitshalber in den Straßengraben ausgewichen, wenn von BEIDEN Seiten LKWs angerast kamen.

Auf einmal sehe ich eine kleine Schildkröte, die seelenruhig den Mittelstreifen entlang wandert wie seinerzeit Peter Sellers in „Welcome Mr. Chance.“ Ich springe vom Rad und pflücke die Kleine von der Straße, die natürlich sofort alle Schotten dicht macht und nicht in die Kamera lächeln will. In einer Wiese setze ich sie behutsam ab und hoffe das Beste.



„Muß i denn …“

Nach knapp zwei Stunden erreiche ich die Ortschaft „Tamms“, in der es angeblich ein Restaurant geben soll. Mir ist nach einem zweiten Frühstück. Das Restaurant gibt es tatsächlich und es ist auch geöffnet. Aber es serviert kein Frühstück.

Schräg gegenüber ist ein Lebensmittelladen, der offenbar auch eine Art Minirestaurant beinhaltet. Während ich noch überlege, kommt aus dem Lebensmittelladen ein Herr mit wallendem weißen Bart auf mich zu: „Are you looking for breakfast?“ Der Herr saß im Mini-Restaurant, hat mich gesehen, gewußt, was ich suche und ist mir zu Hilfe geeilt. „Come on over, you are my guest. Where do you come from?“ Als er hört, dass ich Deutscher bin, beginnt er spontan und in allerbestem Deutsch mitten auf der Main Street “Muß i denn…“ zu singen. Ich bin sprachlos. Wie sich herausstellt, war Donn („I’m Donn, pleased to meet you“) vor vielen Jahren Mitglied in mehreren Chören, die eine Menge deutsches Liedgut einstudiert hatten. Ich bitte ihn, seinen Auftritt mit Videokamera festhalten zu dürfen. „Sure“, sagt er und singt.


Donn S. Miller, kurz „Donn“ ist 67 Jahre, pensionierter Postler, Hobbymathematiker, Hundefreund und hat nie in seinem Leben ein Auto besessen. Er fährt ein Cannondale Fahrrad und kümmert sich um diejenigen Hunde, die sonst niemand (mehr) haben will. Zur Zeit hat er vier. Im Augenblick begleitet ihn nur einer davon und der sammelt sofort eine Menge Punkte bei mir, weil er mich weder ankläfft noch ansabbert sondern tut, was man ihm sagt. Atta boy.

Donn ist kein Millionär und das Leben hat es nicht immer gut mit ihm gemeint. Aber er ist gut zu den Menschen und besteht darauf: „You are my guest“. Ich darf keinen Cent bezahlen geschweige denn IHN einladen. Während wir uns über Gott und die Welt unterhalten, kann ich mich kaum von seinen Augen losreissen, die schelmisch funkeln und jeden 17-jährigen zum Opa machen.

Als ich erwähne, dass ich mein Rad mal wieder duschen sollte, bringt er mich sofort zum richtigen Ort.


Auf dem Weg dorthin organisiert er in einem BBQ-Laden noch eine Brotzeit für mich. „You have to eat!“ Bezahlen darf ich natürlich nicht.

Eine Gruppe Motorrad-Herren verlässt den BBQ-Laden, sieht uns und ignoriert zunächst einmal die wartenden Motorräder. Ehe ich mich versehe, werden eine Reihe von Fotos geschossen und ich gebe meine Geschichte wiederholt zum Besten. Einer der Motorrad-Herren drückt mir zum Abschied einen 20-Dollar-Schein in die Hand: „Buy yourself a good meal!“ sagt er und lässt sich nicht erweichen, die 20 Dollar wieder zurück zu nehmen. Vor 170 Sekunden habe ich diesen Mann noch nicht gekannt und ich werde ihn nie wieder sehen. Und doch gibt er mir von Herzen gern die 20 Dollar.

Ich scheitere kläglich mit dem Versuch, Donn die 20 Dollar anzudrehen. Nicht mal mit den Hunden kriege ich ihn rum. Ich WEISS, dass er sie brauchen kann. Hundertmal mehr als ich! Keine Chance. Er lässt sich lediglich darauf ein, dass ich ihm ein Münchner T-Shirt schicken darf.

Als ich mich langsam wieder auf den Weg mache, begleitet Donn mich noch auf seinem Canondale, bei dem die Tretlager klingen als würde eine Planierraupe Walnüsse zermalmen, die drei Kilometer bis zum Highway. Zum Abschied erzählt er mir noch die folgende und sehr traurige Geschichte:

In Tamms darf jeder maximal drei Hunde besitzen. Als das örtliche Tierasyl schließen muß, nimmt Donn spontan alle 12 Hunde des Asyls vorübergehend bei sich auf, damit sie nicht getötet werden. Er versucht verzweifelt, die Tiere unterzubringen und klingelt sich durch die ganze Stadt. Aber es gelingt ihm nicht. Eines Morgens kommt die Polizei, nimmt ihm die Hunde weg und lässt sie töten. Nur vier von ihnen kann er retten.

Seine Augen beginnen zu irrlichtern, als er mir das erzählt. Der Körper versucht, dem Schmerz entfliehen, den die Worte wieder zu neuem Leben erweckt haben. Bis auf die Augen bleibt Donn ruhig, beinahe distanziert, aber ich spüre mit jeder Faser, wie weh ihm das getan hat. Den Kloß in meiner Kehle werde ich bis Cairo nicht mehr los.

Dust to dust...

In Cairo mündet der Ohio in den Mississippi. Die einst blühende Stadt markiert den südlichsten Punkt des Mississippi River Trails in Illinois. Nach 1.200 Kilometern in Illinois geht es ab morgen in Kentucky weiter. Früher ist lange vorbei, heute ist Cairo klinisch tot. Das ist die „Historic Downtown“!


Leerstehende und baufällige Gebäude, Schuttberge, zerbrochene Fensterscheiben, vernagelte Türen, Dreck. Um Himmels willen, was ist hier passiert? Als ich durch die stumme Häuserwüste wandere, bekomme ich seelische Atemnot. In der örtlichen Bibliothek frage ich ein nach und bekomme zur Antwort: „It’s bad. Really bad. We struggle every day to survive in this town.“ Vom Glanz der vergangenen Tage zeugen nur noch wenige Häuser.


Das Motel, in dem ich übernachte, will ich mal so beschreiben: Nach Einbruch der Dämmerung gehe ich keinen Schritt mehr vor die Tür. Das Zimmer erinnert mich an ein Grab und ich benutze Einweghandschuhe, wenn ich Einrichtungsgegenstände anfasse.

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