Das Buch zur Tour (ANKLICKEN)

13. September

Nauvoo, IL - Quincy, IL

Tages-Km: 84
Gesamt-Km: 1.750
Streckenprofil: flach, wügelig (wellig bis hügelig)
Wetter: sonnig
Temperatur: 17 - 30° C


Als ich gegen 06:30 Uhr aufstehe, weiß ich sofort, dass dieser Tag nicht mein Freund ist. Die Beine sind todmüde und ein leichter Kopfschmerz pulst vor sich hin. Da ich gestern abend nur Limonade getrunken habe, scheidet als Ursache das aus, was die meisten wohl vermutet haben. Nein, es ist/war zu lange zu viel pralle Sonne in den letzten beiden Tagen. Hilft nichts; ein Tschador ist mir zu auffällig.

Die ersten 20 Kilometer von Nauvoo bis Warsaw sind zwar eine Augenweide, vom Streckenprofil her aber genau das, was ich heute nicht brauchen kann. Die Route verläuft parallel zum Ufer des Mississippi River, ist aber wügelig (wellig bis hügelig). Als die Muskeln nach zehn Minuten dann doch ihren Widerstand aufgeben und langsam auf Touren kommen, endet auch mein Tunnelblick und ich sehe die Schönheiten dieses Streckenabschnittes. Alle paar Kilometer hübsche Picknick-Rastplätze mit Informationstafeln zu Geschichte, Natur und Kultur der Gegend. Sehr gepflegt und einladend. Ich will mich in den Schatten legen und schlafen, widerstehe aber der Versuchung mannhaft.


Als ich an einem dieser Rastplätze eine Informationstafel studiere, kommt ein junger Kerl auf mich zu: „Where you wanna go?“ fragt er in gepflegtem Amerikanisch. Ich überlege, ob ich „Me gotta go New Orleans“ antworten soll, gebe dann aber doch in meinem besten Englisch die Kurzversion meiner Geschichte zum Besten. Der Kerl guckt mich fassungslos an und sagt: „Crazy. Man, you are crazy. But awsome, man.“ Er winkt seine Verwandten herbei und es dauert nicht lange, bis alle zehn oder zwölf oder fünfzehn Gruppenmitglieder (zwei Familien, verteilt auf drei Generationen) um mich herum stehen. Jeder will wissen, woher und wohin und warum. Als gebürtiger Altöttinger mit einschlägiger Vorbildung fällt mir die Antwort auf „Woher komme ich“ und Wohin radle ich“ nicht schwer. Von A nach B halt, was auch sonst. A und B mögen variieren, aber das Prinzip bleibt. Beim „Warum“ dagegen wird es knifflig. Warum radeln, wenn es Autos gibt? Die Leute halten mich zwar für halb verrückt, sind aber gleichzeitig begeistert und wir unterhalten uns lange und ausführlich über Radeln, Autos, Gott und die Welt.

In Warschau, Illinois (engl. Warsaw) will ich eine Pause einlegen und essen. Nach Warsaw kommen 50 Kilometer einsames Landschaftrsradeln und ich muß den Kalorientank auffüllen, damit mir nicht mitten in der Pampa der Saft ausgeht. Laut Navi gibt es hier ein Restaurant. Was das Navi verschweigt: Sonntags ist es geschlossen. Eine freundliche Warschauerin empfiehlt mir stattdessen „The Brewery“ - die Brauerei: „Just four blocks. You go all the way down the hill you just climbed and then left.”


Der Teil mit “all the way down” gefällt mir zwar nicht, aber wenn ich jetzt zu faul zum Essen bin, bereue ich es in 20 Kilometer bitter. Also rolle den Hügel wieder hinunter - und bin begeistert.

Die 2006 restaurierte und zu einem Restaurant umfunktionierte „Warsaw Brewery“ liegt direkt am Fluß und hat Tische und Bänke IM FREIEN mit einem phänomenalen Ausblick über den an dieser Stelle schier endlos breiten Mississippi River. Ich bin alleine hier draußen, während im düsteren und unterkühlten Restaurant der Bär los ist. Der Amerikaner sitzt nicht gerne im Freien. Dort drohen Sonne, Wind und echte Luft.

Die „Warsaw Brewery“ wurde 1861 von einem gewissen Rudolph Giller erbaut und eine Menge Warschauer hatten Arbeit. Dann kam am 16. Januar 1919 und mit ihm das „18th Amendment“, das Herstellung, Verkauf und Transport von Alkohol untersagte. Aber die Leute von der Warschauer Brauerei waren findig. Sie erfanden das „Near Beer“, ein Getränk, das dem Bier zwar nahe kam, aber doch soviel Sicherheitsabstand hielt, dass es am 18th Amendment so eben noch vorbei schrammte. Das ging 4 Jahre gut, bis die Wächter über Moral und Gesetz in Quincy (da sitze ich gerade und tippe diese Zeile) eine Waggonladung Near Beer fanden, das zu near am Beer war. Die Brauerei wurde geschlossen und erst 1935, zwei Jahre nach der Aufhebung des 18th Amendment, wieder eröffnet. Bis 1972 war sie in Betrieb.

Leider gibt es in der Brauerei am Sonntag keine Pasta. Statt Nudeln also Burger. Es lebe die regionale Küche. Dazu zwei „Miller Lite“.


Das amerikanische Leichtbier habe ich wider Erwarten zu schätzen gelernt habe. Das „full flavored Beer“, also das Normalbier, ist ja schon … hm… nun… äh… dünner als das deutsche Bier (ist es dann überhaupt Bier oder nur „Near Beer“?). Die leichte Variante ist jedenfalls noch dünner, was eine Braukunst für sich ist. Aber! Das Bier wird schön kalt serviert und ich bin immer sehr durstig. Diese Kombination hilft. Würde ich in Deutschland eine Maß Augustiner zum Mittagessen trinken, wäre der Tag für mich gelaufen. Danach radeln? Keine Chance. Mit amerikanischem Lite Bier geht das.

Kurz nach Warsaw verlässt die Route den Mississippi River und führt wieder schnurgerade durch weites Farmland. Ich kann mich nicht satt sehen an der Perspektive. Ich hier, irgendwo ganz weit hinten, übermorgen vielleicht, die nächste Kurve.


Für viele klingt das so spannend wie der Roman eines Literatur-Nobelpreisträgers. Aber ich genieße diese Abschnitte, die einen Hauch von Endlosigkeit haben. Sobald im Kopf der Weg zum Ziel geworden ist, wird es unwichtig, wie schnell man fährt und wann man wo ist oder sein könnte. Die Zeit bleibt stehen und der Augenblick verweilt.

Blick nach links...



Blick nach rechts ...


Morgen werde ich nur eine Mini-Etappe nach Hannibal, Missouri, fahren. Mark Twain ist dort aufgewachsen und ich will unbedingt den Zaun sehen, den Tom Sawyer von anderen hat streichen lassen.

3 Kommentare:

  1. "Blick nach links" - wer wohnt in dem Kieshaufen am Briefkasten?

    AntwortenLöschen
  2. Lieber Radlhans, das ist ein Biotop für südwestillinoische Felsenmaulwürfe. Ich hab extra nachgesehen.

    AntwortenLöschen
  3. "me gotta go new orleans" ist falsch, "where you wanna go" nicht ;P

    Aber sehr interessanter Blog. Keep it up!

    AntwortenLöschen