Das Buch zur Tour (ANKLICKEN)

20. September

Chester, IL - Jonesboro, IL

Tages-Km: 102
Gesamt-Km: 2.253
Streckenprofil: hügelig, wellig, flach, H.Ü.G.E.L.I.G
Wetter: R.E.G.E.N, Regen, Niesel, Nix, Sintflut
Temperatur: 18 / 28°C


Warnung! Dieser Blogeintrag hat Überlänge. Der Teil mit den Bildern folgt etwas später. Wer nicht lesen mag, soll blättern.


Murphy’s Law für Radler

Vorbemerkung: Für den Fall, dass jemand „Murphy’s Law“ tatsächlich noch nicht kennen sollte. Das oberste Gesetz lautet „Was schief gehen kann, geht schief“. Interessierten empfehle ich einen Blick auf die englischsprachige Website oder in die deutschsprachige Wikipedia.
--------------------------------
Als ich um 06:10 Uhr aufstehe, scheint die Sonne. Ich gähne noch einmal herzhaft, schließe die Vorhänge, begebe mich in den Frühstücksraum, mache mich zwischen zwei Tassen (Styroporbecher) Kaffee, flankiert von zwei Bagels, über die Wettervorhersage lustig (Regen, HA!), gehe zurück ins Zimmer, packe und schiebe das Rad ins Freie. Es regnet in Strömen. Also: Zurück ins Zimmer, Regenklamotten anziehen, umpacken (Sandalen und Stative IN die Taschen, wasserdichte Hülle für das Topcase (so heißt die Tasche auf dem Gepäckträger) suchen Topcase wasserdicht einpacken.

Als ich in voller Regenmontur zur Tat schreiten will, hat der Regen aufgehört. „Nicht mit mir! Bestimmt wird es gleich wieder regnen“, sage ich mir und radle los. Vom Motel geht es erst einmal ein gutes Stück bergan. dann folgt ein hügeliger Abschnitt. Auf und Ab und Auf und Ab. Nach zehn Minuten halte ich die Heimsauna nicht mehr aus und ziehe Regenhose und -jacke wieder aus. Die Überschuhe behalte ich wegen des Spritzwassers an.

Kaum habe ich Hose und Jacke in den Packtaschen verstaut, fallen die nächsten Tropfen. „Nicht mit mir! Bestimmt wird es gleich wieder aufhören“, sage ich mir und radle weiter. Der Regen wird stärker. Und stärker. Ich bleibe stehen, tue aber so, als wollte ich nur trinken. Verstohlen schlüpfe ich husch-husch in die Regenklamotten - vielleicht sieht der Himmel ja gerade weg… Nein, tut er nicht. Während ich mich anziehe, verkümmert der Regen zum leichten Nieseln.

Ich weiß, das MUSS so sein. Wäre es nicht so, wäre die Welt ja fair. Murphy’s Gesetz ist ein Naturgesetz. Am Abend wird es dunkel, die Erde ist eine Scheibe und Murphy hat immer recht. Kaum ergebe ich mich solcherart in mein Schicksal, hört der Regen wirklich auf. Erst in den letzen Minuten der heutigen Etappe wird sich Mr. Murphy grausam für einen schönen Tag rächen.


“Do you know that Jesus can save you?”

Gehen wir in Gedanken noch einmal zurück nach Chester und zu den ersten 500 Metern der heutigen Etappe. Der kurze Anstieg vom Motel zur Stadt. Ich in der Heimsauna, ja? Gut. Also, ich bleibe neben einem Laden stehen, um das Navi einzuschalten und mich kurz zu orientieren. Da tritt eine Frau an mich heran und sagt: „Do you know that Jesus can save you?“ Ich denke „Um Himmels willen, sehe ich nach 500 Metern schon so kaputt aus, dass mir eine mitfühlende Erdenbürgerin IHRE Variante der letzten Ölung anbietet?“ Dann sehe ich die Dame genauer an. Sie ist ganz leicht gebeugt vom Joch, hienieden in diesem Jammertal so lange auf den Aufzug in den Himmel warten zu müssen, dazu kommt dieser einzigartige süss-saure Gesichtsausdruck aller religiös Getriebenen, diese visagistische Meisterleistung der Gesichtsmuskulatur, die auf einem emotionalen Schwebebalken wandelnd auf wundersame Weise die Balance hält zwischen „Ich-bin-viel-zu-gut-für-diese-Welt“ und „Ich-bin-viel-zu-schlecht-für-jene-Welt“.

Ich lasse mein 1a-Schwiegersohn-Lächeln erstrahlen und antworte „Thank you Ma’m, but I’m afraid I have already made up my mind and prefer to rot in hell.“ Leicht verunsichert weicht sie einen kleinen Schritt zurück und sagt mitten hinein in mein festgemeißeltes Schwiegersohnlächeln “Well… eh… anyway: God bless you.” Und weg ist sie.

Für mich war mit diesem schnellen Rückzug erwiesen, dass sie nicht der amerikanischen Fraktion der Zeugen Jehovas angehört. Denn die nahkampf-missionserprobten Zeugen geben erst Ruhe, wenn ich sie das dritte Mal frage: „Welcher Teil von NEIN ist unklar?“ HÄTTE die Dame nachgefragt, warum ich lieber in der Hölle schmoren als in den Himmel aufsteigen möchte, hätte ich in etwa so geantwortet: „You know, in hell I could actually play a card game called sheep-beheading - which of course has nothing to do with beheading sheeps, poor little sheeps they are, oh no, it’s just the name of the game but this is quite another story - what was I saying… ah, yes, so I could play this particular card game with my friends Radlingrid, Radlpeter and Radlhans even on Christmas Eve! And isn’t that one hell of a reason?”


Trübe Aussichten

Ab Kilometer 5 regnet es zwar nicht (mehr), aber die dunklen Wolken hängen tief. Wegen der hohen Luftfeuchtigkeit und der Temperaturen von 27/28 ° C herrscht Treibhausklima. Wenn ich einen Trinkstop einlege, ist das wie ein Aufguss in der Sauna. Teilweise fahre ich AUF dem Damm dahin und genieße den erhöhten Blick ins riesige Treibhaus.


Ohne Sonne schlafen Farben und Kontraste. Aber das dampfige Zwielicht ist wie ein Weichzeichner und lässt die Welt ein wenig distanziert und unwirklich erscheinen. Mutterseelenallein radle ich durch diese faszinierende Twighlight Zone. Das völlige Fehlen von Maschinenlärm macht die Bühne frei für die Natur. Ich rolle durch einen akustischen Regen aus Tiergeräuschen: Vögel, Grillen, Fliegen, Wespen, Libellen. Mir war sogar einmal so, als hätte ich Schildkröten gehört, die ja normalerweise still bleiben, solange sich im Umkreis von fünf Kilometern Menschen aufhalten. Nun ja, vielleicht habe ich mich auch verhört.


“You are in Germantown!”

Nach den ersten vierzig Kilometern komme ich hungrig und durstig in Neunert an. Was sich gut trifft, weil dort die erste Gastwirtschaft seit vierzig und die letzte für die nächsten fünfzig Kilometer ist. Ich genehmige mir zwei „Bud Light“ (für das erste brauche ich drei, für das zweite sieben Sekunden) ...


... und eine sättigende Mahlzeit. Das hier ist natürlich nur die Vorspeise!


Zwei Männer treten an meinen Tisch und wollen wissen: was, woher, wohin. Als sie hören, dass ich Deutscher bin und noch dazu aus München komme, sagt einer der beiden: „You are in Germantown here! We have a family reunion. Nearly everyone has German ancestors or relatives. Our wifes ARE from Germany.” Und tatsächlich begrüße ich kurz darauf eine ehemalige Münchnerin und eine ehemalige Auerbacherin (südlich von Leipzig). Beide leben seit vielen Jahren in den USA. Als ich die Damen frage, ob sie Deutschland vermissen, sind sich beide einig. „Nein, Deutschland nicht, aber das deutsche Essen.“ Wohl wahr. Neben einem gehässigen Essay über Hunde arbeite ich auch schon an einem süffisanten Beitrag mit dem Arbeitstitel "Essen in Amerika - Art oder Unart?"

Einer der beiden Männer ist Hobby-Ahnenforscher mit Profiwissen, regelmäßig in Deutschland, spricht ausgezeichnet deutsch und weiß über deutsche Namen und deutsche Geschichte mehr, als ich in drei Leben lernen würde. Zum Abschied schieße ich noch schnell ein Foto für den Blog. Leider war eine der beiden Damen gerade nicht greifbar. Schade, dass wenig Zeit war. Ich hätte gerne noch länger geratscht.



Des Teufels Rückgrat und ein Elefantenfriedhof

Im „Devil’s Backbone Park & Campground“ lege ich die nächste Pause ein. Mit Blick auf den Mississippi River stehe ich schwer atmend herum und tropfe wieder einmal wie ein Kieslaster.


Ich kann gar nicht soviel trinken, wie ich schwitze. Die schwüle Hitze macht mir zu schaffen. Während ich vor mich hin tropfe, kommt Larry auf mich zu. „Hi, I HAVE to take a closer look at your bike. What a bike. Darn!” Larry war früher viel mit dem Rennrad unterwegs, aber nach einer Rückenoperation ist damit Schluß. Er deutet auf den flachen, schmalen Sattel meines Rades und meint: „You ride a lot because you have a slim saddle.“ Da hat er recht. Es ist ein alter, aber unausrottbarer Aberglaube, dass breite Sofa-Sättel bequemer sind als Rasierklingen-Sättel. Wir unterhalten uns noch eine Weile und nach einer Reihe weiterer„Darns“ mache ich mich wieder auf den Weg.

Kurz vor dem „Trail of Tears State Park“ teffe ich auf diesen Elefantenfriedhof:


Jedenfalls war "Elefantenfriedhof" mein erster Gedanke, als ich an diesem gigantischen Schrottplatz für ausgediente landwirtschaftliche Geräte vorbei kam. Es mag für manchen seltsam klingen, aber all diese toten, verrosteten Ungetüme hatten für mich etwas Würdevolles.

Trail of Tears


Die Geschichte zum Pfad der Tränen ist schnell erzählt und schwer zu vergessen. Es handelt sich um eine weitere Strophe des alten Liedes: Einst lebten hier Indianer: Cherokee, Creek und Chickasaw.



Dann kamen die weißen Siedler und vertrieben die Indianer mit Gewalt. Die U.S. Army hat sie alle nach Oklahoma getrieben. Im bitterkalten Winter starben die meisten der mangelhaft ausgerüsteten und völlig unzureichend versorgten Indianer. Männer, Frauen, Kinder. Nur wenige überlebten. Eine amerikanische Variante unserer Todesmärsche.


Dieser von Leid und Tod bestimmte Weg wurde zum Pfad der Tränen, dem „Trail of Tears“. Kaum war der letzte Indianer ausser Sichtweite, haben sich die weißen Siedler aus Europa den Mund abgeputzt, in die Hände gespuckt und als erstes ein schönes, neues Gotteshaus errichtet.

Nachdem ich diese stille und erhabene Landschaft lange in mich aufgesogen habe, verlasse ich traurig und wütend den „Trail of Tears Statepark“ und nehme die letzten Kilometer nach Jonesboro in Angriff.

Am Ortsschild beginnt es zu tröpfeln. Mo-ment! Da war doch was. Richtig, Murphy’s Law. Ich habe die Regenklamotten griffbereit, warte aber wider bessres Wissen noch ab. Es bleibt beim Tröpfeln. Die ersten beiden Motels sind mir zu schmuddelig und ich muß auf einer stark befahrenen Straße noch mal fünf Kilometer bis zum Super 8 Motel in Anna drauf legen. 300 Meter (DREIHUNDERT!) Meter vor dem Motel öffnet der Himmel seine Schleusen. Von Null auf Hundert prasselt ein Weltuntergang auf mich herunter, den sich Hieronymus Bosch nicht schlimmer hätte ausdenken können. Nichts zum Unterstellen, kein Platz zum Stehenbleiben, nur Autos, die viel zu knapp an mir vorbeirasen. Dann eine Ausweichstelle. Schnell Regenhose und Regenjacke anziehen. Schnell! Überschuhe... dauert zu lange. Nur noch 150 Meter, 50, dann 30. Wo ist die Einfahrt? Keine Einfahrt!! NEIN. Ich hätte zuvor geradeaus und dann links... Egal, ich schiebe die letzten 30 Meter einfach über die Wiese - und latsche mitten in eine 10 Zentimeter tiefe Lache. JETZT sind auch die Schuhe im wörtlichen Sinn tropfnass. In Ruhe und Gelassenheit nehme ich das Malheur zur Kenntnis und checke pudelnass im Super 8 ein. Mr. Murphy lässt sich nicht austricksen.











1 Kommentar: