Das Buch zur Tour (ANKLICKEN)

Der Mississippi River Trail

Der MRT ist Amerikas jüngste Cross-Country Rad-Fernreise-Route. Sie folgt dem 3.778 Kilometer langen Mississipi vom Lake Itasca nahe der kanadischen Grenze bis hinunter nach Louisiana, wo sich das gewaltige Mississippi Delta südlich von New Orleans in den Golf von Mexico ergießt. Vom nördlichen Minnesota geht es Richtung Süden durch die Bundesstaaten Wisconsin, Iowa, Illinois, Missouri, Kentucky, Arkansas, Tennessee, Mississippi und schließlich Louisiana. Durch Städte wie Minneapolis, St. Louis, Memphis und New Orleans verläuft die Radroute mitten durch das Herz der USA.

Vom 4. August bis zum 16. Oktober 2009 war ich unterwegs und habe während der Tour diesen Blog erstellt. Die Videoclips sind ebenfalls während der Reise entstanden.

Kulturschock USA

„Ist das nicht ein furchtbarer Kulturschock?“ fragen mich viele Deutsche, sobald sie hören, dass ich als monatelang kreuz und quer durch die USA radle. Der Kulturschock ist in der Tat gewaltig und könnte zartere Naturen als mich in die Hände eines Therapeuten treiben. In den USA ist alles anders. Als Deutscher ist man hier verloren. Ein paar Beispiele:
  • Wildfremde Menschen grüßen oder lächeln zurück, wenn man sie grüßt oder anlächelt. Ich kann Zeugen nennen.
  • Jugendliche (!) grüßen oder halten einem die Türe auf. Ich weiß, das klingt völlig absurd, aber glauben Sie mir - es ist die schockierende Wahrheit.
  • In Restaurants hat man das Gefühl, willkommen zu sein. Das allein wäre ja schon schlimm genug, aber sie setzen noch eins drauf, in dem sie den Gast unverzüglich, freundlich, aufmerksam und professionell bedienen. In München - home sweet home - gilt ein Ober bereits dann als zuvorkommend, wenn er NICHT handgreiflich wird. Und jetzt kommt der absolute Hammer: wer in einem amerikanischen Restaurant zahlen will - zahlt. Jetzt, hier, sofort. Wirklich! Der Gast braucht keinerlei militärische Grundausbildung, um der Bedienung habhaft zu werden, die dann aus unerfindlichen Gründen immer noch fünf Minuten braucht, um an der Kasse die ENTER-Taste zu drücken.
  • In Kaufhäusern begrüßen einen die Angestellten freundlich und unterbrechen ohne massive Intervention seitens des Kunden ihre Privatgespräche augenblicklich, sobald sich ein Kunde nähert. Da bleibt einem doch die Spucke weg, oder? Was erlauben die sich!
  • In Supermärkten sind die Angestellten erstens präsent und zweitens zuständig. Auf Fragen „Wo finde ich bitte ...“ ertönt kein unwilliges Genuschel kombiniert mit einer Geste, die irgendwo links, rechts, oben, vielleicht aber auch unten oder 'weiß ich doch nicht' bedeuten könnte, sondern: „I show you. Follow me please.“ Alsdann geleitet einen der oder die Angestellte zum Objekt der Begierde und fragt abschließend, ob man sonst noch etwas für den Kunden tun könne. Das tut weh! Um dem ganzen die Krone aufzusetzen, wird man an der Kasse mit einem Lächeln und den Worten verabschiedet: „Have a nice day.“
Rückmeldungen, Anregungen, Vorschläge und Beschwerden zu Text, Bildern und Videoclips bitte an Hermann.Plasa@gmail.com

Viel Spaß beim Lesen und Gucken

Hermann Plasa

16. Oktober

New Orleans, LA - Golf von Mexiko

Tages-Km: 157
Gesamt-Km: 3.930
Streckenprofil: flach
Wetter: bedeckt, bewölkt, leicht bewölkt
Temperatur: 17 / 24° C



Eine lange Avenue des Champs-Élysées

Der letzte Tag der Tour de France ist ein Schaulaufen. Die Entscheidung ist spätestens am vorletzten Renntag gefallen. So ähnlich erlebe ich diesen letzten Tag des Mississippi River Trails: Die Entscheidung ist gefallen, als ich New Orleans erreicht habe. Aber der Mississippi River versickert dort nicht im Sand sondern fließt weiter nach Süden und verzweigt sich in fünf Hauptästen zu einem der größten Mündungsdeltas weltweit. Also werde ich heute radeln, bis es nicht mehr weiter geht.

Die Nacht war scheußlich. Um 01:30 Uhr hat mich ein Gewitter geweckt. Allerdings weder Donner noch Blitz sondern das (verdammt riesige) Hotel hat gezittert. Ich wußte gar nicht, dass Hotels Angst vor Gewittern haben. Im Ernst: Das Donnern war zu spüren, das Gebäude hat vibriert. Von 01:30 bis 03:20 hat das Unwetter getobt und mir jede Chance auf Schlaf geraubt. von 03:21 bis 06:28 habe ich gelesen. Dann bin ich endlich eingeschlafen. Um 06:30 Uhr hat der Wecker geklingelt. Schaulaufen!

Es folgt die kurze Geschichte zur „English Turn Road“, einer 3 Kilometer langen Straße an einem scharfen Knick des Mississippi River, etwa 30 Kilometer südlich von New Orleans:


Im September 1699 schippern die Briten um eben diese Biegung und beschließen - ganz europäische Tradition: „Das ist aber hübsch. Hier lassen wir uns nieder. Das alles gehört ab jetzt uns.“ Allerdings hatten die Briten die Rechnung ohne die Franzosen gemacht, die schon ein wenig früher auf dieselbe Idee gekommen waren. Der Ober-Franzose hat den Ober-Briten davon überzeugt, dass das Empire die Sache verschlafen hat, worauf die Briten ab- und umgedreht sind. Im Gedenken an dieses Gespräch unter Männern hat man die hier verlaufende Straße „English Turn Road“ genannt.

Meine Avenue des Champs-Élysées verläuft die ersten 60 Kilometer parallel zum Deich. Hin und wieder stapfe ich zur Deichkrone hinauf, um die Giganten der Meere zu bestaunen. Wie es der Zufall will, erwische ich ein deutsches Schiff.


Nach der Horror-Etappe von Donaldsonville nach Luling war ich auf das Schlimmste gefasst. Zu meiner großen Freude bin ich jedoch fast alleine unterwegs und habe einen 3 Meter breiten Pannenstreifen ganz für mich. Herrlich!


Je weiter ich nach Süden komme, desto stärker verändert sich die Landschaft. Die Bäume verschwinden und machen Schilf, hohem Gras und Büschen Platz. An manchen Stellen wirkt die Gegend - auf mich jedenfalls - afrikanisch. Nun ja, in Erdkunde war ich noch nie besonders gut.


Ahh! Endlich darf ich Sumpfzypressen einmal im Sonnenschein bewundern! Ich hoffe jedenfalls, dass es tatsächlich Sumpfzypressen sind. Wenn nicht, erkläre ich sie hiermit zu Sumpfzypressen. Dass mir bloß keiner von den Schlaubergern zuhause meine Sumpfzypressen madig macht! SUMPFZYPRESSEN!



Das Ende der Welt

Venice ist der südlichste Punkt Louisianas. Deshalb hat man dem 450-Seelen Dorf auch den Spitznamen „The end of the world“ verliehen.


Ich lasse das Ende der Welt zunächst einmal links liegen und fahre noch fast sieben Kilometer weiter, immer geradeaus. Ganz unspektakulär endet die Straße auf einmal - und ich stehe am Golf von Mexiko. Ich bin am Ziel.


Hätte mich jemand in dem Augenblick gefragt, wie ich mich denn jetzt so fühle, nach all den Tagen, Wochen und Monaten im Sattel, nach all den Kilometern und Erlebnissen - ich hätte vermutlich mit den Schultern gezuckt und gesagt: „Kann ich nicht sagen. Im Augenblick weiß ich nur, dass ich Hunger habe und morgen weiter in Richtung Kalifornien radeln könnte.

E N D E

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Zum Schluss eine kleine Bitte in eigener Sache. Mich interessiert, wie viele Leute diesen Reisebericht regelmäßig verfolgt haben. Außerdem wüßte ich gerne, was diesen Lesern (besonders) gefallen/ (gar) nicht gefallen hat. Deshalb die Bitte, mir entweder per Kommentar im Blog oder per Mail an Hermann.Plasa@gmail.com eine kurze Rückmeldung zu schicken: „Das hat mir gefallen“, „Das hat mir nicht gefallen“, „Das habe ich vermisst“, „Davon mehr!“, „Davon weniger!“ So in der Richtung, ja?.

Vielen Dank!

Hermann Plasa

15. Oktober

Ein Tag in New Orleans

Rückblick:
  • 23. August 2005: In den südöstlichen Bahamas bildet sich ein bedrohliches Sturmtief, das man „Katrina“ tauft und das sich zu einer der fürchterlichsten Naturkatastrophen in der Geschichte der USA entwickeln sollte.
  • 28. August 2005: Katrina wird am Morgen als Hurricane der Stufe 5 klassifiziert. Um 13:00 Uhr erreicht der Wirbelstum seine maximale Stärke. Mit Windgeschwindigkeiten von bis zu 280 km/h und Sturmböen von bis zu 344 km/h gilt Katrina zu diesem Zeitpunkt als einer der schwersten gemessenen Stürme im Golf von Mexiko.
  • 29. August 2005: Eine bereits etwas geschwächte Katrina trifft mit Windgeschwindigkeiten von 205 Km/h auf das rund 70 Kilometer südlich von New Orleans gelegene „Buras Triumph“ - durch das ich morgen radeln werde.

Katrina spült Schiffe an Land...

Quelle: Wikipedia

... und ertränkt New Orleans, das zu 80% unterhalb des Meeresspiegels liegt.

Quelle: Wikipedia

Tausende sterben, Millionen fliehen, das Ausmaß der Schäden ist unvorstellbar.

Quelle: Wikipedia

In den letzten Tagen vor der Katastrophe haben bis zu 1,3 Millionen Menschen das Gebiet rund um New Orleans verlassen. Manche fliehen bis nach Texas und viele von ihnen verlieren alles, was Sie besitzen und werden nie wieder nach New Orleans zurück kehren. Wer die Stadt nicht rechtzeitig verlassen konnte, sollte sich in den „Superdome“ begeben, das berühmte Football-Station im Herzen von New Orleans. Bis zu 60.000 Menschen flüchten sich dorthin. Aber Katrina beschädigt das Stadion so schwer, dass auch der Superdome evakuiert werden muß.

Quelle: Wikipedia

Das Chaos bricht los. Mülltonnen rund um den Superdome werden in Brand gesetzt, Rettungsmannschaften werden von Plünderern angegriffen, die Evakuierung mit Schulbussen wird von den Behörden gestoppt, nachdem das Flüchtlingslager in Huston innerhalb kürzester Zeit überfüllt ist. Wartende Busse versinken ungenutzt in den Fluten. Krankenhäuser werden von Plünderern besetzt, Vergewaltigung und Mord ist an der Tagesordnung. Man versucht verzweifelt, der überhand nehmenden Gesetzlosigkeit Herr zu werden. Am 1. September wird das Kriegsrecht über New Orleans verhängt.

Die Stadt ist über Nacht zu José Saramagos „Stadt der Blinden“ geworden. Lange bevor ich von diesem Roman wußte, habe ich mir ausgemalt, was passieren würde, wenn es weltweit für 60 Minuten keinerlei Polizei gäbe, wenn jeder Mensch auf diesem Planeten wüßte, dass er eine Stunde lang tun kann, was er will, ohne dass er irgendwelche Konsequenzen zu fürchten hätte. Wie dünn ist die Schicht der Zivilisation, wie porös die Moral? Ich glaube, dass 1 Stunde reicht, um die Menschheit um 100.000 Jahre zurückzuwerfen und der Zivilisation global das Rückgrat zu brechen.

Katrina bricht jedenfalls New Orleans das Rückgrat. Als ich im Frühjahr 2007 auf meiner Pazifik-Atlantik Tour zum ersten Mal in New Orleans bin, liegt die Stadt noch im Koma. Viele Häuser und Geschäfte stehen leer, zerstörte und unbewohnbare Häuser allüberall. Ich erinnere mich noch an ein Restaurant mit verschlossenen Türen, durch dessen schmierige Fenster man den Staub zentimeterhoch auf den Tischen und Stühlen liegen sah - und die handgeschriebene Tafel mit den „Today's Specials / Aug 28th“.

Ich wandere an meinem heutigen Pausentag nicht in Sack und Asche durch die kranke Metropole und geißle mich auch nicht alle 7 Minuten mit einer 9-schwänzigen Katze, damit ich ja nicht Gefahr laufe, das Leben zu genießen, wo es doch soviel Leid auf dieser Welt gibt. Das überlasse ich den professionellen Leidern. Aber ich will mir der jüngeren Geschichte der Stadt bewußt sein und nicht so tun, als wäre die „Bourbon Street“ alles, was New Orleans zu erzählen hat.

Mein Tagesprogramm:

Ich laufe die „Canal Street“ entlang bis zum Mississippi River, drehe eine Runde auf dem „River Walk“ am Ufer des Mississippi River bis zum weltberühmten „Cafe Du Monde“ und schlendere dann kreuz und quer durch das „French Quarter“. Es folgen kommentarlos meine Eindrücke:
















Morgen früh mache ich mich auf den Weg ans „Ende der Welt“.

14. Oktober

Luling, LA - New Orleans, LA

Tages-Km: 45
Gesamt-Km: 3.773
Streckenprofil: flach
Wetter: Regen, bewölkt / leicht bewölkt
Temperatur: 27 / 32° C



Hinein nach New Orleans

Es hat die ganze Nacht über geregnet, gedonnert und geblitzt. Heute morgen ist Luling ein Meer. Während ich frühstücke, wütet der Regengott zwar immer noch, aber so langsam geht ihm die Luft aus. Es wird es heller, doch nicht ganz (Es lebe die Erste Allgemeine Verunsicherung!) Bis ich gepackt habe, tröpfelt es nur noch.

Wie versprochen chauffiert mich Amy, eine der Hotelmanagerinnen nach dem Frühstück über die verbotene Brücke. Ich weiß um meine Schusseligkeit und habe alles, nun… fast alles ordentlich gepackt und verschnürt. Einzig das gelbe B.O.B.-Fähnchen, das immer so schön im Gegenwind flatterte, habe ich husch-husch in den Kofferraum gelegt. Dort liegt es auch jetzt noch. Von nun an bin ich ohne Fähnchen unterwegs. Schade, denn ich habe mich so an das Flattern und Zappeln hinter mir gewöhnt.

Amy setzt mich direkt nach der Autobahnausfahrt am Westufer ab.


Der Regen hat aufgehört, die Wolken lichten sich gaaaaanz laaangsaaam. Es herrscht die übliche morgendliche Waschküchenatmosphäre. Eine Minute, nachdem ich das klimatisierte Auto verlassen habe, sehe ich aus wie nach einem Aufguss in der Sauna. So muß es sein, genau so. Von hier bis zum Radweg sind es etwa 25 Meter: über die Straße und den Deich hinauf. Im Gegensatz zu gestern ist Weg auf der Deichkrone geteert und zählt zu den Perlen des Mississippi River Trails. Der Kontrast zu gestern ist so groß, dass es schmerzt: keine Autos, blauer Himmel und ein asphaltierter Radweg.


Die nächsten 35 Kilometer lege ich auf dem „Bill Keller Memorial Path“ zurück, der einen Spitzenplatz in der „Biketrail Hall of Fame“ verdient. Der Mississippi River ist fast immer im Blick.


Der Radweg endet im Audubon Park, einer großen, grünen Oase der Ruhe mitten in der emsigen Metropole.




Jogger, Fußgänger, Skater … ich hatte schon vergessen, dass es so etwas gibt. Am Nordausgang des Parks biege ich rechts in die St. Charles Avenue ein, die mich durch den berühmten „Garden District“ mitten hinein ins Herz von New Orelans führt.


Da steh‘ ich nun, ich alter Tor,
und bin viel fitter als zuvor.
Ha! welche Wonne fließt in diesem Blick
auf einmal mir durch alle meine Sinnen!
Ich fühle junges, heil'ges Lebensglück
neuglühend mir durch Nerv' und Adern rinnen.
Am Ziel bin ich jedoch noch nicht,
und damit endet dies Gedicht.

13. Oktober

Donaldsonville, LA - Luling, LA

Tages-Km: 81,5
Gesamt-Km: 3.728
Streckenprofil: flach
Wetter: bedeckt, bewölkt, Schauer
Temperatur: 25 / 31° C



Ein Tag, an dem nichts ist wie es scheint

Mit geflicktem Schlauch (ein Nagel war‘s) mache ich mich morgens um 09:25 Uhr auf den Weg. Lufttemperatur 27° C, Luftfeuchtigkeit 97%, tief hängende Wolken. Kein Problem, ich weiß ja, was ich dagegen tun kann: gar nichts.

Auf der Karte wirkt die Strecke malerisch, oder? Was „River Road“ heißt, muß schön sein, richtig? Welcome Dr. Jekyll and Mr. Hyde.


Seit ich diese Tour geplant habe, freue ich mich auf diesen Abschnitt, der so verlockend aussieht. Pustekuchen! Wobei ich natürlich der Straße keinen Vorwurf machen darf, denn das Problem sind die Autos und Trucks, die auf ihr entlang rasen. Immer noch nicht korrekt. Die Fahrer sind das Problem. Sie machen einem das Radeln zur Hölle. Ich weiche immer wieder für ein paar Kilometer auf den Schotterweg der Deichkrone aus. Durch den vielen Regen der letzten Wochen ist der Weg aber so weich, dass die Reifen teilweise bis zu 3 Zentimeter einsinken und ich nur mühsam mit 9 - 12 Km/h voran komme. (Lasst euch von den blauen Fetzen nicht täuschen; das war nur eine vorübergehende Schwächeperiode des Himmels.)


In Vacherie stoppe ich kurz an der „Oak Alley Plantation“. Aber ich bin definitiv nicht in der Stimmung für eine ausgiebige Besichtigung und belasse es bei einer Stippvisite.


Auch das Wetter hält nicht, was es verspricht. Es sieht fast immer nach Regen aus, aber er fällt mir nie auf den Kopf.


Mindestens fünf Mal fahre ich auf solche Wolkenungetüme zu wie in den geöffneten Schlund eines Monsters - aber ich bleibe trocken. Nun, abgesehen von dem, was 97% Luftfeuchtigkeit, 27 bis 31 Grad Celsius und stundenlanges Radeln bewirken. Die Gewitter jedenfalls ziehen entweder zur Seite oder es regnet VOR oder HINTER mir. Mehrere Male pflüge ich durch Seen, wo kurz zuvor noch eine Straße zu sehen war. Die Autos hält das nicht von der Raserei ab. So komme ich über Umwege doch noch in den Genuss des Regenwassers, jetzt vermischt mit gutem louisianischen Boden. Lehmig, sumpfig, jam.

Neben der Straße und dem Wetter hat offenbar auch die Polizei ihr Motto gewechselt. Statt „Polizei, Dein Freund und Helfer“ heißt es jetzt „Polizei, mein Freund, die helf‘ ich!“ Als ich so vor mich hin radle, höre ich plötzlich eine Lautsprecherstimme hinter mir: „Take your bike off the road and ride on the levee!“ Genau diese Worte, genau dieser Ton. Sonst nichts - und bevor ich begreife, was das war, überholt mich der Sheriff und verschwindet in der Ferne. So habe ich es also der Polizei zu verdanken, dass ich weg von der Straße bin. Letztlich hat mir der Sheriff mit seiner rüden Art dennoch einen Gefallen getan. Ich komme zwar nur noch langsam und schwerfällig voran, doch die Mücken hier oben können mich nur stechen, aber nicht überfahren.

Dann kommt der Hammer. Heut ist aber auch gar nichts so, wie es scheint. In Edgard soll ich laut Radführer die Fähre nehmen und ab dann am Ostufer des Mississippi River weiter in Richtung New Orleans fahren (Pfeil in erster Kartenübersicht ganz oben). Endlich, denke ich, endlich. Drüben ist bestimmt alles anders, alles ist drüben besser. Es muss drüben einfach alles anders und besser sein! Vielleicht, vielleicht aber auch nicht. Ich werde es jedenfalls nicht herausfinden, denn die Fähre hat vor zwei Jahren den Betrieb eingestellt. Kurz davor ging der Radführer in Druck; er kann also nichts dafür. Was tun? 15 Kilometer zurück radeln? Dort war zwar eine Brücke, aber eine Autobahnbrücke. Weiter radeln? Wohin führt diese Straße? Wann kommt die nächste Brücke? Gibt es in dieser Gegend überhaupt eine Brücke, auf der man als Radfahrer über den Mississippi River fahren kann? Gibt es noch andere Fähren?

Die meisten Menschen, denen ich heute begegnet bin, waren schätzungsweise zwischen 18 und 25 Jahre alt und lungerten um dreckige Autowerkstätten, heruntergekommene Kneipen und Häuser mit eingeschlagenen Fenstern herum. Immer in Gruppen, immer schweigend und immer haben mich alle mit ihren Augen in Zeitlupe verfolgt. „Nur ja keinen Platten jetzt!“ war mein einziger Gedanke.

Ein paar Kilometer nach der Fähre, die es nicht mehr gibt, kam dann aber doch noch ein halbwegs seriöser Laden, in dem ich nachgefragt habe. „The next bridge is about 15 Miles away, in Luling. Just follow the road. There should be hotels too, I think.” Ach ja, das zweite Problem neben der Brücke hatte ich ganz vergessen. Wo übernachte ich heute eigentlich? Wild Zelten in dieser Gegend? Bei diesem Wetter? In diesem Sumpf? Bitte nicht! Mein Navi hat mich aber gleich beruhigt und mir mitgeteilt, dass es in Luling mindestens vier Motels kennt.

So bin ich also weitere 25 Kilometer auf dem Deich dahin gekrochen und habe dabei die einzigartige Aussicht auf den Mississippi River sehr genossen. Trotz aller Schinderei - der Deich ist der Straße eindeutig vorzuziehen.

Zum Schluss wurde es dann wieder knapp. Der nächste Gewitter-Schlund ragt vor mir auf: dunkelschwarz, hoch, breit und böse. Diesmal gibt es kein Entkommen. Dort hinten erkenne ich zwar schon die Autobahnbrücke, aber das Hotel, das ich mir ausgeguckt hatte, liegt noch etwa 7 Kilometer HINTER der Brücke. Als ich mich der Brücke und dem Schlund nähere, geht das Donnern und Blitzen los. Dann entdecke ich eine Tankstelle unterhalb der (riesigen) Brücke. Nichts wie runter vom Deich und rein in die Tanke. Unterstellen. Moooo-ment! Was ist das NEBEN der Tanke? Da steht dick und fett RAMADA drauf. Das kenne ich! Das ist ein Hotel, YEAH! Nix wie rein. (Das folgende Foto stammt vom Morgen danach!)


Noch während des Eincheckens geht es draußen infernalisch ab. Das ist kein Gewitter, das ist die kalte und vertikal verdrehte Variante eines Vulkanausbruchs. Ich erkläre der Dame an der Rezeption mein Problem mit der fehlenden Fähre und den verbotenen Brücken und frage, ob Sie nicht jemanden wisse, der mich, mein Fahrrad, den Anhänger und das Gepäck morgen früh für eine Hand voll Dollar ans andere Ufer des Mississippi River chauffiert. Nach einem kurzen Telefonat kommt sie zurück und sagt: „A manager of the hotel will give you a ride tomorrow morning. When would you like to leave?

Wäre ich nicht so ein harter Hund, würde ich der Dame jetzt heulend um den Hals fallen und sinnloses Zeug sabbern. So aber sage ich nur: „You are an angel! And now would you give me a Kleenex, please? Make it two.“

12. Oktober


Plaquemine, LA - Donaldsonville, LA

Tages-Km: 66
Gesamt-Km: 3.646
Streckenprofil: flach
Wetter: bewölkt, leicht bewölkt, Regenschauer
Temperatur: 17 / 27° C


Die heutige Etappe fällt in die Kategorie „Trödeletappe“. Ich versuche, Zeit zu gewinnen, ohne dabei allzuviel Zeit zu verlieren. Mit jedem Tag steigt die Wahrscheinlichkeit, dass ich bei Sonne und nicht im Regen am Golf von Mexiko ankomme. Andererseits muß ich mich am kommenden Montag auf den Rückweg nach Chicago machen. Das Mietauto hab ich heute gebucht. Freunde, die Tour neigt sich unweigerlich dem Ende zu.

Wie dem Kartenausschnitt oben zu entnehmen ist, folgt der heutige Abschnitt hautnah dem Mississippi River. Und doch hätte ich gut und gerne 100 Kilometer entfernt radeln können, denn zwischen mir und dem Fluss war der Deich. Ob der Fluss, den ich NICHT sehe, 100 Meter oder 100 KILOmeter entfernt ist, macht für das Auge keinen Unterschied. Nicht da ist nicht da. Hin und wieder stelle ich deshalb das Rad ab und laufe auf die Deichkrone, damit auch die Augen ihren Durst stillen können.

Fast die gesamte Strecke folge ich dem Highway 405, teilweise bei abenteuerlichem Straßenbelag. Träumen verboten.


Ich bin begeistert von den gigantischen … „Dingens“, die da wachsen. Wer’s weiß, bitte einen kurzen Kommentar oder ein Mail an Hermann.Plasa@gmail.com schreiben, damit ich die „Dingens“ beim Namen nennen kann).


Südlich von „White Castle“ erreiche ich die „Nottoway Plantation“, DIE Attraktionen hier.


Das Herrschaftshaus der ehemaligen Zuckerplantage verfügt über 64 Zimmer. Zu seiner Zeit völlig bahnbrechend: Wasserleitung, Gasbeleuchtung und Kohlekamine. Einem Kanonenbootoffizier der Unionisten - ein ehemaliger Gast des Hauses - ist es zu verdanken, dass die Plantage den Bürgerkrieg halbwegs unversehrt überstanden hat.


Es gibt einen Souvenirladen und man bietet Führungen durch alle Gebäude des Anwesens an. Für 150$ die Nacht kann man dort sogar logieren. Das hauseigene Restaurant steht jedem offen. Sogar mich hätte man dort bedient, verschwitzt wie ich war in meinen Radklamotten und mit Helm bzw. Piratentuch. Aber nach einem kurzen Blick auf die vornehm gekleideten Herrschaften an den Tischen und die herumwuselnden Kellner, Oberkellner und Chefs in hübschen Uniformen habe ich mich - leicht underdressed - dagegen entschieden.

Was ist das da? Vielleicht ein rote Feuerameise?


Das Tier war etwa 2 - 3 cm lang und ist dermaßen schnell über die Straße gerannt, dass ich ihr kaum folgen konnte. Stillsitzen wollte sie natürlich nicht. Zickig. DIE Ameise.

Das Lametta Louisianas: Spanisches Moos


Am Ende wäre mich die Trödelei beinahe noch teuer zu stehen gekommen.


Nach diesem Foto habe ich kräftig aufs Gaspedal gedrückt und Petrus ausgetrickst, obwohl er in allerletzter Minute noch einen fiesen Trumpf gezogen hat: 1 (EINEN … E.I.N.E.N) Kilometer vor dem Motel wurde der Hinterreifen schwammig. Platten. Donner und Blitz im Nacken - und ein Platten! Aber mit einmal (hektisch) Aufpumpen habe ich mich grade noch über die Ziellinie gerettet. Puh. Jetzt möchte ich nicht da draußen sein und Reifen reparieren. Apocalypse Now.

11. Oktober

New Roads, LA - Plaquemine, LA

Tages-Km: 87
Gesamt-Km: 3.580
Streckenprofil: flach
Wetter: starker Regen, mittlerer Regen, leichter Regen, Nieselregen, kein Regen
Temperatur: 16 / 23° C


Sharon Stone spielt die Hauptrolle in einer zu recht unbekannten Schnulze aus dem Jahr 1992 - sensiblere Naturen würden wohl von einem erschütternden Beziehungsdrama sprechen. Handlung und Inhalt tun hier nichts zur Sache, aber den Titel schraube ich ab und nagle ihn über den heutigen Tag:

„Und die Tränen vergehen im Regen“

ZWEI lange Tage habe ich in New Roads ausgeharrt und erst auf Sonne, dann auf Nicht-Regnen und schließlich wenigstens auf nicht-mehr-so-heftig-regnen gehofft. „Höhö“ lacht Petrus „Atheist! Dir werd‘ ich geben, Höhö!“ Es hilft nichts. Im strömenden Regen fahre ich die ersten zwei Kilometer zum McDonald’s, wo ich zwangsfrühstücke. Außer dem MÄCK gibt’s hier nur - kann man das überhaupt so sagen? - Gleichwertiges.

Gestern war ich auch schon im MÄCK und habe mir das Deluxe-Breakfast für 4,98 $ gegönnt. Der Kaffee ist gut, der Rest - Oli aufgepasst - füllt die Kammern. Weil die Deluxe-Version jedoch auch Würstchen vorsieht, habe ich diese Zutat gestern abbestellt. Kein Problem. Heute das selbe Spiel, aber mit anderen Regeln:
How can I help you?
I take the Deluxe-Breakfast, but without the meat - please.” Die Dame stutzt und ich höre ein paar Relais in ihrem Kopf klicken und klacken.
No meat?“ fragt sie.
Ich lächle: „Yes Madam, no meat. I am a vegetarian and therefore I want the Deluxe WITHOUT the meat.” Vier Bedienstete sehen mich mittlerweile an wie einen Außerirdischen. Was ich vermutlich auch bin mit meinen Radklamotten und einer Abneigung gegen Fleisch zum Frühstück. Wieder höre ich Relais klicken und meißle mir das Schwiegersohnlächeln fest ins Gesicht. Umsonst, es perlt an der Dame ab wie draußen der Regen an meinen wasserdichten Packtaschen. Dame 1 dreht sich um und erklärt Dame 2 das Problem. Dame 2 ist hier der Chef im Ring. Auch ihre Relais klacken und klicken.
„Sir, we can’t do that.“ sagt sie nach einer kurzen Bedenkzeit.
„Yesterday - same place, same game - they could. How come that?” sage ich.
“Sir, it’s like the menu says." sagt sie.
Die kommt mir bei dem Sauwetter grade recht. Ich tausche mein Schwiegersohnlächeln gegen das Terminatorgesicht aus.
Madam, just tell me what I have to say to get a Breakfast without any meat and I will repeat your words exactly. Wait a sec! I could of course order all the things of the Deluxe as a sequence of single orders and simply don’t mention the meat. How about that?
Dame 2 sieht Licht am Ende des dunklen Gedankentunnels. Natürlich! Logisch! Klar! Der Kerl mit den lustigen Klamotten und den seltsamen Essgewohnheiten kann die Dinge, die er mag, ja auch einzeln bestellen und die Würstchen, die er NICHT mag, NICHT bestellen.
We can do that“, sagt Dame 2.
Well“, sagt jetzt wieder der Schwiegersohn, „to shorten the ordering process, I take the Deluxe-Breakfast, but without the meat - please”. Na also.
Da ich mir noch das Notebook aus den Radtaschen holen will, während die Küche mein Frühstück mit Liebe arrangiert (Ei an Styropor, Brot an Plastik, Pancake an Papier, Hand an Essen), drehe ich mich in Richtung Ausgangstür. Als ich dabei den irritierten Blick von Dame 2 aus den Augenwinkeln wahrnehme, kann ich der Versuchung einfach nicht widerstehen und sage im besten Bariton, den ich zustande bringe: „I’ll be back.“ Herminator, ich.

Petrus dreht den Hahn nun vollends auf und ich mache mich im prasselnden Regen auf den Weg. Meine Regenüberschuhe habe ich mit einer zusätzlichen Schicht Plastiktüten verstärkt, damit ich endlich mal mit trockenen Füßen ankomme. Außerdem dauert es immer so lange, die Schuhe wieder trocken zu fönen. Je nach Qualität des Föns brauche ich pro Schuh drei bis vier Überlastungsschutz-Abschaltungen.


Im Zusammenhang mit Schuhen noch eine kurze Geschichte, die ich vor einigen Tagen erlebt, aber bisher noch in keinem Blog untergebracht habe. Drei Jugendliche - zwei Jungs, ein Mädchen - gehen während einer Brotzeitpause neugierig auf mich zu. Die Jungs fragen mir Löcher in den Bauch: welche Übersetzung ich fahre, welche Reifen, warum einen Rückspiegel, wo ist die Gangschaltung, warum zusätzliche Bremshebel, wie viele Gänge hat die Schaltung, wie viele Zähne das große, mittlere und kleine Kettenblatt, wie hoch ist der Luftdruck in den Reifen, was ist in den Packtaschen, wie befestigt man den Anhänger, was ist ein Schnellspanner, welches Werkzeug habe ich dabei und und und.

Das Mädchen schweigt zu alledem. Als die Jungs alle technischen Details kennen, die auch ich kenne und nicht mehr wissen, was sie noch fragen könnten, sagt das Mädchen lapidar: „I like your shoes.“ Dann drehen sich die drei um und kümmern sich wieder um das, worum sich Jugendliche halt so kümmern.

Zurück zur heutigen Etappe. Das folgende Bild mag erklären, warum Amerika technisch längst nicht mehr die Weltmacht ist, die es einmal war:


Dieses Schild steht vor einer Schule und verbietet ausdrücklich das Tragen von Schusswaffen auf dem Schulgelände. Selbst im Schulbus ist es nicht erlaubt.


Soll man lachen oder weinen? Das erinnert mich an die Fragen, die man bei der Einreise in die USA beantworten muß, zum Beispiel: "Kommen Sie in der Absicht, terroristische Anschläge zu verüben?". Ich frage mich jedes Mal, wie viele mit JA antworten und was dann passiert.

Lousiana ist im Prinzip ein einziges Sumpfgebiet. Deshalb gibt es hier auch fast nur oberirdische Gräber. Erdbestattungen wären in Wirklichkeit Wasserbestattungen und nach heftigen Regenfällen sähe es aus wie in Graf Draculas Swimming Pool. (Radlhans, wär das nicht ein Buchtitel für Dan Shocker?)



Im Land von Rhett und Scarlett

Wegen des Wetters fällt es mir heute verdammt schwer, das Glas halb voll und nicht halb leer zu sehen. Der Streckenabschnitt zwischen Livonia und Plaquemine gehört zum Schönsten, was man als Radler erleben kann. Südstaaten pur. Wie sehr wünsche ich mir Sonne. Ich will Farben und Kontraste, Funkeln und Glitzern, Leuchten und Schimmern! Aber selbst in der bleiernen Twighlight Zone komme ich aus dem Staunen nicht heraus und in jedem Dorf zwischen Livonia und Plaquemine wissen sie jetzt, was ein Bayer vor sich hin brüllt, wenn er begeistert ist. Leider bekomme ich die Fotos nicht so hin wie ich sie gerne hätte. AHHRGHH. Trotzdem, ein paar davon müsst ihr ansehen.

Vergesst die Deutsche Eiche! Die lousiana-ischen Eichen… sie sind… diese Eichen hier … sind unbeschreiblich. Mein Fahrrad schrumpft auf Matchboxauto-Größe.


Uralt, majestätisch, ausladend, bewachsen und behangen mit allerlei Naturschmuck stehen sie Spalier entlang der Straßen und Zufahrten zu den typischen Südstaatenhäusern, den sogenannten „Antebellum-Häusern“. Lateiner vor! („De bello gallico, oda hä“, wie wir vom Bauhof in der Brotzeitpause immer sagen). Viele dieser Vorkriegshäuser (erbaut vor 1861, dem Beginn des amerikanischen Bürgerkrieges) schmücken sich entweder bescheiden mit einzelnen Eichen …


… oder protzig mit kompletten Alleen.



Petrus glaub mir, das zahle ich Dir heim!