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17. September

Grafton, IL - Chahokia, IL

Tages-Km: 87
Gesamt-Km: 2.031
Streckenprofil: flach
Wetter: sonnig
Temperatur: 15 - 28° C


Illinois‘ Antwort auf Weltenburg

Ich mache mich früh auf den Weg und werde mit diesem Glitzerwasserblick belohnt. Rechts vom Radweg der Mississippi River …


… links ragen „Bluffs“ (Klippen) in den Himmel.


Das Bild auf dieser Klippe zeigt den „Piasa Bird“, einen Monstervogel in zweifacher Hinsicht.


Erstens ist er riesengroß (man achte zum Vergleich auf mein winziges Fahrrad am unteren Bildrand) und zweitens hat er unschuldige Indianer zum Frühstück, Mittag- und Abendessen verspeist. Das jedenfalls behauptet der Schreiberling „John Russell of Bluffdale“ in einer 1836 veröffentlichten Gruselstory. Posthum ernenne ich Herrn Russel hiermit zum „Dan Shocker“ des 19. Jahrhunderts.


Ein Teil der Legende

Ich will auf dem „River View Trail“ (Missouri-Seite) nach St. Louis radeln und überquere deshalb wieder einmal den Mississippi River. Diesmal jedoch auf einer ganz besonderen Brücke: der „Chain of Rocks Bridge“. Das folgende Foto habe ich der Wikipedia entnommen. Die restlichen stammen von mir.

Quelle: Wikipedia

1929 erbaut wurde die Brücke sieben Jahre später Teil der legendären „Route 66“ von Chicago nach Los Angeles und war bis 1968 in Betrieb. Dann ließ man die Brücke dreißig Jahre lang verrotten, bis ein Abriss unausweichlich schien. Nicht auszudenken, nachdem ich die Brücke nun erlebt habe. 1998 wendete sich das Blatt zum Guten und heute ist die „Chain of Rocks Bridge“ nicht nur geschichtsträchtig sondern auch die längste dedizierte Fahrrad- und Fußgängerbrücke der Welt.


Ob das mit der längsten undsoweiter tatsächlich stimmt, kann ich nicht beurteilen. Der Hang der Amerikaner zu Superlativen ist ja hinlänglich bekannt. Aber eines weiß ich: Völlig alleine auf dieser Brücke über diesen Fluss zu radeln zählt zu den intensivsten Erlebnisse meines bisherigen Radlerdaseins. Ich bin mindestens 30 Mal abgestiegen, hierhin gelaufen und geguckt, dorthin gelaufen und geguckt, zurück gelaufen und geguckt, nur geguckt, nur gelaufen…

Wer jemals den Mississippi River Trail radelt und NICHT über diese Brücke fährt, der soll augenblicklich und auf Nimmerwiedersehen in den Fluten des Mississippi versinken!


Es ist nicht nur der Zauber der Brücke und das Wissen, den „mighty“ River zu überqueren. Auch die vielen originalgetreuen Route-66-Accessoires machen fünf Minuten Radeln zu einer Zeitreise.



Nächster Halt: „St. Louis!“

Irgendwann kann ich mich dann doch losreißen (die anderen 97 Fotos erspare ich euch an dieser Stelle) und nehme die letzten 30 Kilometer bis St. Louis in Angriff. Auf dem „River View Trail“, wieder einem sehr gepflegten Radweg geht es am Flussufer entlang in Richtung Metropole.

Nach zwanzig Kilometern stehe ich nach einer Linkskurve plötzlich vor dem Schild „Trail closed!“ Mehr nicht. Kein Hinweis: Was tun? Wohin fahren, Warum, Wie lange. Nichts. Nur „Trail closed!“ Nach rechts führt eine Straße zu einer Corrida der Dämonen. In zwanzig Sekunden zähle ich neun Trucks, die mit einer Heidengeschwindigkeit in beide Richtungen donnern. Von den Autos dazwischen will ich gar nicht reden. 4-spurig, kein Pannenstreifen - Selbstmord. NIEMALS! Was tun? Umkehren oder den gesperrten Trail wenigstens - antesten? Umkehren würde bedeuten: 20 Kilometer zurück, wieder über die Chain of Rocks Bridge und in Illinois 20 Kilometer nach Süden. Wenn ich ganz schnell bin, könnte ich mir von hier dort drüben dann zuwinken. Ich entscheide mich fürs Antesten.

Nach zweihundert Meter sehe ich schweres Baugerät und viele Behelmte. Man will ja die Leute nicht unnötig provozieren, also schiebe ich das Rad und versuche, meiner Körperhaltung die richtige Mischung aus unbeugsamem Willen und respektvoller Unterwürfigkeit zu verleihen. Die Indianer ignorieren mich (wie erwartet), aber der Häuptling kommt auf mich zu (wie erwartet). „This Trail is closed!“, sagt er freundlich. Tja, darauf wäre ich von alleine nicht gekommen. “Ich weiß”, sage ich, “aber ich bin fremd hier, kenne mich nicht aus und habe absolut keine Ahnung, welchen Weg ich jetzt nehmen soll. Die Straße dort vorne - ich deute auf die Corrida - garantiert nicht. Gibt es denn keine Möglichkeit, die Baustelle zu umgehen?“ Er sagt: „Klar, schieb einfach das Rad hier auf den Damm, dann 50 Meter auf dem Damm bis zu den Bahngleisen, heb es über die Gleise und dann kannst Du ganz normal auf dem Radweg weiterfahren.“ Wäre er kein Mann, hätte ich ihm die Füße geküsst. Ich rechne dem Häuptling diese Erlaubnis umso höher an, als zwei unübersehbare Warnschilder dringend davor warnen, hier die Gleise nur jaaaa nicht zu überqueren! Sicherheitshalber hänge ich den Anhänger ab. Ich will hier nicht feststecken, wenn einer dieser kilometerlangen Güterzüge angedonnert kommt.


Knapp eine Stunde später stehe ich vor dem Wahrzeichen von St. Louis, der „Gateway Arch“, dem weithin sichtbaren 192 Meter hohen Torbogen im Stadtzentrum.



So - und jetzt? Es ist 16:45 Uhr. Die Hotelpreise (ab 159$) überzeugen augenblicklich davon, dass ich heute lieber zelten will. Da ich - um ein Zitat aus dem Film „Indien“ abzuwandeln - „kein Stadtmensch in dem Sinn“ bin, fällt mir der etwas überhastete Abschied von St. Louis auch nicht besonders schwer. Ich radle wieder hinüber nach Illinois und hinunter nach Cahokia zum „Cahokia RV Parque", wo ich hungrig wie ein Wolf zwischen Wohnmobil-Steilwänden mein Biwak aufschlage, nur kaputte Waschmaschinen (Plural!) vorfinde, das angepriesene Hochgeschwindigkeits-Internet trotz Bezahlung nicht funktioniert, das angepriesene Camping-Restaurant erstens kein Bier ausschenkt, zweitens nichts mehr zum Essen hat ausser „fried chicken“ oder „spare ribs“ (und das mir!!!) und drittens sowieso gleich zusperrt.

Dafür sind die Duschen 1a. Mit diesem mageren Trost lege ich mich hungrig, aber sauber ins Zelt und freue mich über die 139$, die ich gespart habe, weil ich nicht in St. Louis geblieben bin. Und überhaupt. Im Hyatt hätten sie nicht mal Waschmaschinen GEHABT! Ha.

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