Das Buch zur Tour (ANKLICKEN)

08. Oktober

Natchez, MS - New Roads, LA

Tages-Km: 140
Gesamt-Km: 3.493
Streckenprofil: flach
Wetter: bedeckt, bewölkt, heiter
Temperatur: 26 / 32° C



Vom Winde verweht und der Sonne gebraten

Die Schlechtwetterfront trödelt. Gestern hätte sie heute hier sein sollen, heute soll sie erst morgen über dieses Gebiet hinweg ziehen. Aha, auch recht. Also streiche ich den Stadtbummel durch Natchez und schwinge mich um 08:00 in den Sattel: 26° C, dichte Wolkendecke, Luftfeuchtigkeit 97%. Hätte ich Kiemen, wäre ich jetzt in meinem Element.

Gleich nach der Brücke über den Mississippi stoppe ich noch einmal für ein Hirschgeweih-Foto, ich habe ich den zehnten und letzten Bundesstaat dieser Tour erreicht:


300 Meter hinter dem „Welcome-Schild“ halte ich am ersten und gleichzeitig letzten Lebensmittelladen - eine Tankstelle - für die nächsten 105 Kilometer. Erst dann werde ich wieder Gelegenheit haben, Wasser zu fassen. Dazwischen erstreckt sich nur das Asphaltband nach Süden, auf dem ich meinem heutigen Etappenziel „New Roads“ am „False Lake“ entgegen krieche. Weil ich manchmal aus Fehlern lerne, tanke ich ausreichend Wasser.


Von Beginn an bremst mich ein kräftiger Gegenwind und wirft schon nach kurzer Zeit alle Zeitpläne über den Haufen. Anfangs versuche ich noch, 20 Km/h zu halten, dann 18 Km/h, dann 15 Km/h. Am Ende bin ich froh, wenn ich nicht unter 12 Km/h falle. Wer jemals knapp 8 Stunden nonstop gegen einen kräftigen Wind gekämpft hat, weiß, wie sehr das auf Dauer Muskeln, Nerven und Willenskraft strapaziert.

Auf meiner ersten USA-Reise im Jahr 2007 habe ich bei Gegenwind-Marathon-Etappen eine Methode entwickelt, um nicht an dieser unsichtbaren Mauer zu verzweifeln. Das Prinzip habe ich meinem Sportlehrer, Herrn Kölbl, zu verdanken (Ja, Herr Kölbl, ich habe damals aufgepasst!). Es ging darum, wie man 120 Liegestützen pro Tag "spielend" absolvieren kann. Die Idee ist gleichermaßen einfach wie effizient: bei jeder Gelegenheit (nach dem Aufstehen, nach dem Frühstück, vor der Hausaufgabe, nach der ...) jeweils 10 Stück. Nicht mehr, nicht weniger und keine Ausnahmen. Das Ganze 12 Mal pro Tag = 120 Liegestützen = gutes Training. Fast nebenbei.

Ich habe diese Salamitaktik für's Gegenwind-Radeln leicht modifiziert und greife an diesem Tag zum zweiten Mal während dieser Tour auf sie zurück: alle 7,5 Kilometer (später dann alle 5 Kilometer) absteigen, Waden und Oberschenkel jeweils 3 Minuten dehnen, trinken, 7,5 Kilometer fahren, absteigen, Waden...usw. Bei jeder zweiten Pause gibt es neben Wasser auch noch eine Kleinigkeit zum Essen, bei jeder vierten Pause stehen 5 Minuten „Beine vertreten“ auf dem Programm. Dabei darf ich weder das Rad ansehen noch an die verbleibende Strecke denken oder fluchen. Jedenfalls nicht laut. Zur Sicherheit zähle ich während dieser Zeit stur von 1 bis irgendwas. Diesem Rhythmus unterwerfe ich mich willenlos und konsequent und zerteile damit einen für meine zarte Psyche viel zu großen Brocken in kleine und verdaubare Häppchen.

Nach einer Stunde lichtet sich die Wolkendecke, nach zwei Stunden bin ich einer gleißenden Südstaatensonne ausgeliefert, bei der man Hendl am ausgestreckten Arm in 15 Minuten grillen könnte. Den ausgestreckten Arm natürlich auch. Mit zunehmender Sorge betrachte ich meine ausgestreckten Arme.

Der Gegenwind wird stärker. Die vielen vollen Trinkflaschen sind eine feine Sache, aber eine Infusion an beiden Armen wäre besser. Ich trinke, trinke, trinke, trinke. Auf der nächsten Tour werde ich als Kompromiss mal einen Trinkrucksack testen.


Die Sonne prügelt derart auf mich ein, dass ich mir zur Halbzeit wieder das Trikot MIT Ärmeln anziehe, um wenigstens ein paar Quadratzentimeter mehr Haut zu schonen. Schatten gibt’s hier weit und breit nicht. Auch nichts zum Unterstellen - nada. Ich blinzle hinauf und frage mich, ob es mir wohl so ergeht wie einem der drei Hunde (höhö) in „Ein Fisch namens Wanda“, der von einer herabfallenden Last zerquetscht wird. Können Sonnen eigentlich herunter fallen? Es ist OKTOBER! Wie mag das hier im Juli oder August sein? Gut, dass ich meinen 170-Gramm Werbegeschenk-Samsonite-Regenschirm dabei habe, der nun als Sonnenschirm erste Hilfe leistet und laut Asterix ja auch für den Fall hilft, dass einem der Himmel auf den Kopf fällt. Schon bin ich wieder beruhigt. Solange ich den Schirm geöffnet habe, droht keine Gefahr. Gut, dass ich keiner Menschenseele begegne. Radler gelten ja schon als seltsame Kreaturen, aber Radler mit Regenschirm bei DEM Wetter… Wer weiß, ob man mich nicht einliefern würde.

„Sir, would you mind explaining to me why you a) ride a bike b) in Louisiana c) at that temperature d) wearing gloves and e) holding an open umbrella? I don't se rain, do you?”

“Ahh, YESSIR! Sure: Because it’s fun.”

„Sooo, because it’s fun. FUN, my ass! Hey Joe, listen to this funny guy from Ger-ma-ny. Say Joe, would it be FUN to YOU to a) ride a bike b) in Louisiana c) at that temperature d) wearing gloves and e) and holding an open umbrella while it's NOT raining?”

“Ah, Mr… ah… Policeman, may I interrupt..”

“Quiet Mr. Ger-ma-ny! In case you didn’t notice, I am talking to my Partner Joe. That would be the big fat redneck staring down at you and holding his temperament barely.

“Ah, Mr…"

“Quiet! What Joe? Yeah, right, thought you would say that. Well, Mr. Ger-ma-any. Joe too doesn’t think it’s FUN. We, the Po-lice refer you to a psychiatric clinic in central Nevada. He Joe! There he WILL have a lot of fun, won't he? Fun, my ass!”

Es kostet mich einiges an Überwindung, die Video-Dokumentation der Reise nicht aus den Augen zu verlieren.


Wie hoch die Luftfeuchtigkeit tatsächlich ist, erkennt man eindeutig an einem Schiff, das auf demselben Highway wie ich schwimmt. Gut, dass ich gerade etwas abseits meine Dehnübungen absolviere, als es an mir vorbei rauscht. Ansonsten wäre ich jetzt wohl Nichtschwimmer.


Nett:



Déjà-vu

Bei Kilometer 100 habe ich das Gefühl, dass ich hier schon einmal war. Als dann ein Schild auf die „Angola Ferry“ hinweist, fällt es mir wieder ein. Der „Southern Tier“, besagte erste USA-Reise im Jahre 2007 führte hier vorbei. Ein Blick auf die Karte bestätigt, dass „Southern Tier“ und „Mississippi River Trail“ für rund 30 Kilometer identisch sind.

Wind, Zeit, Hunger und Durst hin oder her - da kann ich nicht einfach vorbei fahren. ich biege links ab, strample den Deich hoch und dann eine etwa 300 Meter lange Steinpiste bis zum Ufer des Mississippi River. Genau an dieser Stelle bin ich im Fühjahr 2007 schon einmal gestanden und habe auf das Meer geblickt, das keins ist sondern „nur“ ein Fluß. Déjà-vu.


Die nächsten 30 Kilometer werden zu einer sentimentalen Gedächtnistour. Wäre Angie jetzt noch dabei, müsste sie sich alle drei Meter so interessante Dinge anhören wie: „He, schau mal! Das ist der eine Baum. Du weißt schon. Der Baum mit dem Ast, der… Du erinnerst Dich NICHT? Aber natürlich, du MUSST Dich doch erinnern… Nicht? Aber ich … Egal. Der Baum ist jedenfalls noch genau dort, wo er damals war und der Ast auch! Unglaublich!“ oder „Wahnsinn, die Brücke! Genau. Da war sie damals auch. Mein Gott. Was hat es an diesem Tag gleich wieder zum Frühstück gegeben?“ Erinnerungen sind des einen Freud, des andren Leid. Trotzdem, ein zweites Erinnerungsfoto müsst ihr noch ertragen.


In „Not your Mama’s Cafe“ habe ich damals zum Erstaunen aller übrigen 11 Mitradler ZWEI riesige Kuchenstücke verdrückt. Als Nachtisch zu einem formidablen Mittagessen. Das mußte ich mir dann auch bis zum Ende der Tour anhören. Ha! Trotzdem hab ich damals 7 Kilo abgenommen. Ungefähr soviel wie allein am heutigen Tag.

Die Etappe wird langsam zum Kampf gegen die Uhr. Bis 19:00 Uhr muß ich von der Straße sein, denn dann ist es dunkel und Radeln wird wirklich riskant. Andererseits, je länger die Schatten, desto magischer das Licht:



Ich will noch mal Gas geben, habe aber keine Kraft mehr; der Gegenwind hat mich - für dieses Mal - endgültig in die Knie gezwungen. Ich fahre am Anschlag, komme aber trotzdem nicht mehr über 12 oder 13 Km/h.

Um 18:50 Uhr erreiche ich das Motel, dessen Büro um 19:00 Uhr schließt. Um 18:52 Uhr betrete ich das fürchterlichste Zimmer, in dem ich je übernachtet habe. Ist mir heute egal. Um 18:53 stehe ich unter der fürchterlichsten Dusche, unter der ich je gestanden habe. Ist mir heute egal. Um 18:55 Uhr schlafe ich im fürchterlichsten Bett, in dem ich je geschlafen habe. Ist mir auch egal. Abendessen entfällt mangels Energie.

Auf den 140 Gegenwind-Kilometern und der Grillhendl-Sonne habe ich insgesamt 11 Liter getrunken.




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