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03. Oktober

Greenville, MS - Chotard Landing, MS

Tages-Km: 122
Gesamt-Km: 3.109
Streckenprofil: flach
Wetter: sonnig
Temperatur: 17 / 28° C


Laut Wettervorhersage ist heute der letzte schöne Tag für längere Zeit. Also heißt die Devise „Genießen“. Sofern die Pannenserie nicht weitergeht, wüßte ich nicht, was mich an Problemen erwarten könnte. Diese naive Haltung sollte sich im Verlaufe des Tages noch drastisch ändern.


Na also! Es geht doch.


Leider finde ich weder den Pastor der „New Life Curch“ noch eines seiner Schäflein. Alles leer und verlassen. Zu gerne hätte ich mehr über das Kirchen-Oktoberfest erfahren, das laut Reklametafel ja jetzt im Augenblick stattfinden soll.


Eine „Ponderosa Ranch“ in Mississippi

„Roy’s Store“ ist berühmt. So berühmt, dass man die Straße zum Lake Washington nach ihm benannt hat. Wie nicht anders zu erwarten war, führt die „Roy’s Store Road“ geradewegs zu „Roy’s Store“.


Weil „Roy’s Store“ (wieder einmal) das einzige Geschäft weit und breit ist, ist es ein Laden für alles und jedes, inklusive Restaurant und Tankstelle. Für die Sitze an der (kleinen) Bar hat man alte Traktor-Sitze verwendet. Mit meinem Radklamotten bin ich hier DIE Fehlbesetzung in einer Westernserie. Spielte Bonanza in Mississippi und nicht in Nevada, säßen Hoss und Little Joe mit Sicherheit jetzt auf den Traktor-Sitzen und Hop Sing würde ordentlich aufkochen.

Während der 45 Minuten, die ich in Roy’s Store zubringe, lerne ich ungefähr 48 Menschen kennen. Nach dem fünften brauche ich meine Geschichte gar nicht mehr selbst zu erzählen. Jeder Neuankömmling wird von einem der Gäste innerhalb von Sekunden auf den aktuellen Stand gebracht: „Hey Joe, this guy here is Herman (hier gibt's mich nur mit einem "n"). Herman, the German, haha. He is from Munich in Germany and cycles along the Mississippi River all the way from the headwaters in Minnestoa down to the Gulf.” 20 Sekunden später geht die Tür auf und Joe ruft: “Hey Jim, this guy…” Laute Post.

Mit einem Ehepaar, die „one mile down the road“ wohnen, unterhalte ich mich etwas länger. Beide kennen Deutschland, Österreich und die Schweiz recht gut und wir reden über das Oktoberfest, die aktuelle Bundestagswahl (ja, die Herrschaften waren gut informiert!) und Amerikas Rolle im Irak-Konflikt. Als ich mich verabschiede, drückt mir Eddie noch seine Visitenkarte mit zwei Telefonnummern in die Hand: „In case you need help between here and Vicksburg, just give us a call.


Wassermangel, oder: Wo issn 's Hirn?

Hätte ich zu diesem Zeitpunkt gewußt, dass Roy’s Store der letzte Laden für die nächsten 85 Kilometer ist, hätte ich meinen Wasservorrat von aktuell 3 Litern noch ordentlich aufgestockt. Lange Rede, kurzer Sinn: mir ging an diesem Tag das Wasser aus. Weit und breit nicht nur kein Laden sondern auch keine Häuser - gar nichts. Nach 50 Kilometern habe ich zu rationieren begonnen: nur noch zwei kräftige Schlucke und nicht mehr gierig trinken. Dann 5 Kilometer fahren und wieder zwei Schlucke. Aus drei Litern wurden zwei, dann einer, dann ein halber. Weit und breit keine Menschenseele in Sicht. So nebenbei ist mir dann aufgefallen, dass der Reifen des Anhängers fast platt ist. Eine gute Gelegenheit für zwei heimliche Schlucke. Schluck - Aufpumpen - Schluck- und hoffen.

Der Sparwitz von dem Getränkeladen in der Sahara läuft als Endlosschleife in meinem Kopf: Sagt ein Freund zum andren. Du, ich eröffne mitten in der Sahara einen Getränkeladen. Sagt der Freund: Aber da kommt doch nie jemand vorbei. Sagt der andere wieder: „Tjaaaaa, aber WENN mal einer vorbeikommt ...“.

In Gedanken zähle ich alle Getränkesorten auf, die ich in meinem bisherigen Leben getrunken habe. Nichts hat so gut geschmeckt wie das rote Gracherl vom Gracherl Schuster in Garching. Vielleicht noch das Bluna beim Bessinger. Vielleicht! Wie viel Wasser enthält eigentlich der Mississippi? Kann man aus Pfützen trinken? Soll man? Angenommen, die Sonne würde die Polkappen jetzt schmelzen; wie viel Wasser ... In derlei motivierende Gedanken versunken, rolle ich abseits jeglicher Zivilisation auf dem Deich dahin und dahin und dahin. Ob es auf dem Mond wenigstens Trinkwasser gibt? Was wäre, wenn...


Ich hoffe inständig, dass der Anhänger-Reifen die Luft hält und der im Radführer genannte Zeltplatz „Chotard Landing“ noch in Betrieb ist. Wenn nicht, muß ich mindestens noch weitere 25 Kilometer fahren. Bei Kilometer 105 habe Durst wie nie zuvor. Der Wettergott bestraft meinen Übermut mit einer ordentlichen Prise Gegenwind. Die Wasserflasche entwickelt eine magische Anziehungskraft. Ihr zu widerstehen kostet mich wesentlich mehr Kraft als die Treterei. Willenskraft ist hilfreich, aber irgendwann ist der Tank einfach leer. Mein mulmiges Gefühl verwandelt sich langsam in aufkeimende Panik.

In düstere Gedanken versunken fahre ich nur Zentimeter an einer eingerollten schwarzen Schlange vorbei. Der Durst war vergessen. Ich BIN stehen geblieben, BIN abgestiegen, BIN zurück gegangen und HABE die Schlange gefilmt, damit mir nachher ja keiner mit Hasenfüßen und Blindschleichen daherkommt! Das Tier war zwischen 1,50 und 2 Meter lang und ist netterweise weg gekrochen. Als ich ihr zu nahe kam, hat sie für einem Moment kehrt gemacht und das Maul aufgerissen. Im Film ist die plötzliche und unkontrollierte Rückwärtsbewegung des Kameramanns in diesem Augenblick nicht zu verkennen. Ohne optischen Bildstabilisator wären die Aufnahmen vermutlich so scharf wie die von Nessie.

Bei Kilometer 122 glaube ich rechts im Wald ein paar Holzhütten zu erkennen, kurz darauf biegt eine Sandstraße rechts ab. Auf einem Schild steht „Chotard Landing“. Nach weiteren 250 Metern stelle ich das Rad vor dem Office ab, stürme durch das Büro direkt in den Laden, kaufe Wasser, Wasser, Wasser und trinke, trinke, trinke. Als mich die Welt wieder hat, erkläre ich der verdutzten Dame an der Rezeption die Situation: „I started in Grerenville this morning and ran out of water. I simply couldn't find a store or a place, any place for that matter, to refill my bottles.
Honey“, antwortet sie, „nothing and no one out here. You could die of thirst in the woods and nobody would find you for months. There are some coyotes out there, though.“ Beruhigend, sehr beruhigend.

Dann sehe ich mir den Zeltplatz genauer an. Trotz Tunnelblick (Trinken, Trinken, Trinken) bei der Einfahrt ist mir aufgefallen, dass das Grün ziemlich nass aussieht. Und tatsächlich, jeder Fußtritt in der Wiese hinterlässt einen schönen Abdruck, der sich sofort bis zum Rand mit Wasser füllt. Da kann ich mich auch gleich in die volle Badewanne legen.

Das Glück ist mir ein weiteres Mal hold: man vermietet auch „Cabins“, kleine Holzhütten für Fischer und Jäger. Die Schwamm-Wiese und der Wetterbericht (für heute nacht ist ein Wettersturz mit nachfolgendem Dauerregen vorhergesagt) überzeugen mich schnell davon, dass ich eine Holzhütte will.

Nach diesem anstrengenden Tag kann ich neben dem unstillbaren Durst auch einen tierischen Hunger nicht leugnen. Im Mini-Laden (immerhin!) ist die Auswahl allerdings sehr eingeschränkt und ich beende den Tag mit diesem frugalen Abendmahl:

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