Das Buch zur Tour (ANKLICKEN)

04. Oktober

Chotard Landing, MS - Vicksburg, MS

Tages-Km: 68
Gesamt-Km: 3.177
Streckenprofil: flach, in Vicksburg sehr hügelig
Wetter: Regen, heftiger u. kalter Wind
Temperatur: 11 / 19° C



„Soooo ein Tag…“

Als ich morgens den ersten verschlafenen Blick aus dem Fenster werfe, steht die Welt unter Wasser. Von oben ist Nachschub unterwegs. Rohr frei! Es schüttet, als gäbe es kein Morgen. All das Wasser, das mir gestern versagt blieb, fällt jetzt vom Himmel und macht die Welt um mich herum zu einem einzigen Sumpf. Was bin ich um diese Hütte froh! Mein zweiter verschlafener Blick wandert zum Reifen des Anhängers: platt. Meinen dritten Blick widme ich der Kaffeemaschine, die mir ohne Kaffee jedoch wenig nützt. Es geht doch nichts über einen guten Start in den neuen Tag.

Nachdem ich den Anhängerreifen aufgepumpt, das Rad gepackt und mich in die Regenklamotten gezwängt habe (noch in der selben Sekunde beginne ich zu schwitzen), grabsche ich mir den Schirm, den ich vor Jahren als Dreingabe zu meinem Handy bekommen habe. Das gute Stück wiegt zwar mehr als eine Banane, hilft aber erheblich besser gegen Regen. Solcherart gegen das vor der Hütte wütende Armageddon ausgestattet, stapfe ich durch den Sumpf zum Office und kaufe mir in Ermangelung eines echten ein Ersatz-Frühstück: zwei Bananen. Ich bin kein Obstesser in dem Sinn.

Bis Vicksburg sind es etwa 70 Kilometer. Und wenn mir der Himmel auf den Kopf fällt, ich fahre heute bis Vicksburg und suche mir dort ein sündteures, schönes, trockenes Hotel mit einem unbegrenzten Vorrat an Trinkwasser und Kaffee.

Manche Bilder muß man trotz Regen machen; in der einen Hand die Kamera, in der andren den Schirm:


Als ich die Kuh mit dem Vogel-Cowboy auf ihrem Rücken sehe, traue ich meinen Augen nicht.


Was ist da los? Vogelhochzeit? Vogel-Rodeo? Mooooo-ment! Heute ist Sonntag. Eine Predigt vielleicht? Eine Vogeltaufe? Ein rituelles Menschenopfer? Wenn ja, wo ist das Opfer? Liebe Spezialisten unter den Lesern, erleuchtet mich! Das Vogel-Rudel ist ein paar mal auf und davon, hat eine Runde gedreht, sich wieder um die Kuh versammelt und EIN Vogel ist immer auf dem Rücken der Kuh gelandet.

Nachdem ich mich heute mit ACHT Litern Wasser ausgestattet habe (zwei für den Durst und sechs für die Nerven), radle ich in der Heimsauna Vicksburg entgegen. Außen ist es nass-kalt, innen nass-warm.

Nach etwa 30 Kilometern lässt der Regen nach und hört schließlich ganz auf. Vorübergehend jedenfalls. Als es den Anschein hat, dass ich tatsächlich trocken nach Vicksburg kommen könnte, ziehe ich mich komplett um. KOMPLETT. Ahhhh, trockene und warme Klamotten, ahhh. Die nassen Lappen stopfe ich in eine Plastiktüte und diese in eine Packtasche. Bloß weg damit! Aus den Augen, aus dem Sinn. Heute abend wird gewaschen, Yessir!

Die letzten acht Kilometer fahre ich auf der historischen Route 61. Was daran historisch ist, bleibt mir jedoch schleierhaft.


Zu beiden Seiten säumen Trailer (Mischung aus Wohnwagen und Haus) die Straße. Alles ist verdreckt, vergammelt, verrottet, heruntergekommen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass da Menschen wohnen, aber die vollkommen verdreckten, vergammelten, verrotteten und heruntergekommenen Spielsachen, Werkzeuge, Stühle, Tische, Sofas, Fernseher, Schaukeln, Autos, Fahrräder, Motorräder vor, neben, unter und auf den Trailern belehren mich eines Besseren. Deprimierend und auch ein wenig beängstigend ist das. Ich will peinliche Fragen herumlungernder 120-Kilo-Kerle vermeiden - „Ey bro, whaddayawanna widem pics, ey?“ - und lasse den Fotoapparat vorsichtshalber stecken.

Dann erreiche ich Vicksburg. Nach 130 Metern beinahe ansehnlicher Stadt biege ich links ab und sehe das.


Das soll ein Teil von Downtown Vicksburg sein? Auch die nächsten paar hundert Meter bringen keine entscheidende Wende. Es bleibt trist. Gut, das Wetter. Ja, es ist Sonntag. O.K., die Hauptsaison ist vorbei - aber DAS… DIESES… Nein, hier mag ich nicht bleiben. Mich reizt sowieso der „Military Park“ am Stadtrand erheblich mehr als Downtown. Ich hatte mir schon in Greenville das Hampton Inn & Suites ausgeguckt, das direkt gegenüber vom Park ist. Gesagt, getan.

Zwei Kilometer vor dem Hotel zog dann die nächste massive Gewitterfront über Vicksburg und mich hinweg. Ohne zu ertrinken, erreiche ich das Hotel:


Die mitfühlende Dame an der Rezeption gibt mir - zum Preis eines normalen Zimmers - eine Suite: „There is more room for your bicycle.“ Es gibt Dinge, die passieren Dir in Deutschland niemals! Nicht in zwanzig Re-Inkarnationen gibt Dir bei uns jemand ein teureres Zimmer zum Preis eines günstigeren Zimmers, nur damit Du ein tropfnasses Fahrrad samt Anhänger besser unterbringen kannst. Nevva evva. Triefend schiebe ich das triefende Rad und den triefenden Anhänger mit dem jetzt wieder fast platten Reifen über den Marmorboden zum Lift, hoffe, dass mir jetzt niemand begegnet und freue mich auf ein heißes Bad. Hier bleibe ich ZWEI Nächte.

Morgen repariere ich zuerst den Anhänger-Reifen. Dann wate ich stundenlang im Regen durch den Military Park und stelle mir dabei einen sonnigen Oktobertag in Bayern vor.

5 Kommentare:

  1. Mensch Hermann,
    wenn ich mir die Wetterkarte so anschaue, meint's Petrus wohl nicht so gut mit Dir. Hoffentlich ist das keine Retourkutsche von den verwunschenen Truckern! Aber wenn Du es bis Freitag nach New Orleans schaffst, kannst Du Dich auf 30°C 7und 20% Regenwahrscheinlichkeit freuen ...
    Ciao
    Tino

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  2. Dieser Kommentar wurde vom Autor entfernt.

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  3. Die Vogelfrage "Was ist da los?" verrät den Autor als ausgemachten Anthropozentristen. Dabei kann schlechterdings nicht einmal für das vorgeblich vernunftbegabte Wesen, für das der Mensch in seiner Überheblichkeit sich hält, die SINNfrage zureichend und unstrittig geklärt werden. Wie könnten Mensch und Vogel auf einen gemeinsamen Inhalt des Daseins sich verständigen? Vielleicht findet die Kreatur in seiner dem Menschen unerklärlichen Flatterhaftigkeit, in seinem scheinbar ziel- und "sinn"losen Kreisen seine Zufriedenheit, vielleicht in eben diesem So-Sein gar das Glück? Gekrönt von dem (vogeldemokratisch wechselnden) Privileg, einmal von des Rindes Rücken in den Mississippi dort zu blicken? Ja, so sind sie, die Vögel. (Frag nur, dass'd was lernst)

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  4. Lieber Radlhans,

    tausend Dank für Deine tiefgründigen und wie immer im Licht der Radlhans'schen Säkular-Scholastik trefflichst ausgeleuchteten Überlegungen zu aktuellen Fragen der südost-mississippischen Fauna im beginnenden dritten Jahrtausend. Aber warum so viele Worte für den einfachen Begriff "Vogel-Rodeo"?

    Ergebenst,

    Hermann

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  5. Die Lösung ist doch viel simpler: Es handelt sich um das unter vielen Vogelarten weltweit beliebte Spiel "Kack-dem-Touri-auf-den-Kopf". Wer trifft hat gewonnen, und darf sich auf die Kuh setzen. Die darf allerdings aus naheliegenden Gründen nicht mitspielen! Klar, sie kann nicht fliegen! Nach drei Minuten - die genaue Spanne hängt von der Anzahl der herumstehenden Touris ab - flattern alle los, und das Spiel beginnt von vorne!

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