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02. Oktober

Rosedale, MS - Greenville, MS

Tages-Km: geradelt 38,5 KM (rote Linie)
Gesamt-Km: 2.987
Streckenprofil: flach
Wetter: sonnig
Temperatur: 15 / 27° C


Mein lieber Radlpeter, nach den heutigen Erlebnissen wird Dich Dein Kommentar vom 30. September teuer zu stehen kommen. Ort: Waldschenke, Hart. ICH wähle die Waffen! Hätte ich Deine Ohren jetzt griffbereit…


Armageddon

Der Wetterbericht hatte mal wieder recht. Für Mitternacht (!) waren schwere Gewitter vorhergesagt. Vorsichtshalber habe ich deshalb das Zelt in einer kleinen Lichtung und nicht direkt zwischen den Bäumen aufgestellt, alle Taschen von Rad und Anhänger abmontiert, im Zelt verstaut und die allerwichtigsten Dinge in den Rucksack gesteckt, den ich wiederum direkt am Zeltein- bzw. ausgang deponiert habe. Der Fluchtweg zu den Duschen hätte nur rund 70 Meter betragen. Weil die Amerikaner alles immer behindertengerecht bauen, hätte ich sogar Rad samt Anhänger im Falle des Falles mitnehmen können.

Pünktlich um 00:00 Uhr hat das Wetterleuchten begonnen, ein zuverlässiger Herold eines aufziehenden Unwetters. Kurz darauf Donner. Aber wie. Um 00:30 ist dann ein Gewitter über den State Park hinweg gezogen, das sich „Sie“ schreiben darf. Es ist ein unbeschreibliches Gefühl, inmitten dieser entfesselten Naturgewalten, völlig allein in diesem riesigen Waldgebiet zu sein, eingesperrt (verschlossenes Gatter des State Park) und in absoluter Dunkelheit in einem hauchdünnen (aber absolut wasserdichten) Zelt zu liegen und darauf zu hoffen, dass Dir der Himmel nicht auf den Kopf fällt. Ist er nicht und um 02:10 war alles vorbei. Natürlich auch der Schlaf. Also lesen bis um 03:00 und die verschiedenen Geräusche um das Zelt den verschiedenen Tieren der Nacht zuzuordnen. Bei meinen begrenzten Kenntnissen auf diesem Gebiet waren das nachtaktive Krokodile, Dinosaurier, Löwen, Riesenschlangen und Elefanten. In Wirklichkeit wohl eher Waschbären, Opossums (Opossi?) und Eichhörnchen…

Vor der Abfahrt mußte ich natürlich noch einmal einen Blick vom Aussichtsturm des State Parks auf den Mississippi River werfen. Vom nächtlichen Unwetter ist keine Spur mehr zu sehen.



Frühstück mit Hindernissen

Zwischen Rosedale und Greenville liegen 60 Kilometer ohne Restaurant. Also habe ich mich in Rosedale auf die Suche gemacht und Leute nach einem Restaurant gefragt. Mae (rechts im Bild) war dermaßen begeistert von mir und meiner Geschichte, dass es mir die Sprache verschlagen hat, was mir nicht so oft passiert.


Für Mae war dieser Tag etwas Besonders weil sie mir, jemand Besonderem, begegnet ist (Angie aufgemerkt!): „Meeting you made this day a blessed day.“

Die örtliche Tanke - im Bild oben im Hintergrund zu sehen - ist gleichzeitig das einzige … nun ja, Restaurant und überdies ein Sten Nadolny Fanclub allererster Güte. Die Leute hier haben die Langsamkeit aber sowas von entdeckt. Bis da ein Kunde abkassiert ist, dreht sich die Welt ein gutes Stück weiter. Viele der Kunden sind nicht mehr die Jüngsten. Wäre ich Bestattungsunternehmer, ich würde direkt neben dieser Tankstelle ein florierendes Unternehmen gründen.

Für 1,89 Dollar (da darf man nun wieder nicht meckern) bekomme ich das miserabelste Frühstück meines Lebens (jetzt darf ich wieder): kaltes Rührei (Nadolny geschuldet), eine (EINE… E.I.N.E.) Scheibe nicht getoastetes (!!!!) Toastbrot, das in komprimierter Form die kleinste Rosenkranzkugel der Welt ergäbe sowie einen Styroporbecher „E 605“-Kaffee, den ich zweimal ausgetrunken und dreimal gefüllt hatte, bis ich das erkaltete Rührei und die Rosenkranzkugel in Scheibenform zahlen durfte. Aber es hilft nichts, ich brauche Protein, also würge ich das kalte Rührei runter. Weil es weder Tische noch Bänke gab, mache ich Jungspund es mir auf dem Bordstein NEBEN den Zapfsäulen bequem. Ich esse gerne im Dreck. Hier waren wenigstens keine Raucher; die hielten sich alle ZWISCHEN den Zapfsäulen auf. Das weißte Dingens am Boden ist mein Frühstück, der Lohn der Angst.




Pleiten, Pech & Pannen

Aber dann: Sonne, Rückenwind, die Trucks schlafen noch - YIII-HAAHH! Turbo ein und ab geht’s, vorbei an Sumpfzypressensümpfen…


... durch Siedlungen


Für dieses Bild bedanke ich mich an dieser Stelle sehr herzlich bei Mike Nelson, der mir aus der Patsche geholfen hat, nachdem ich das Stativ vergangene Nacht sturmsicher in einer der Taschen vergraben habe. (Thank you Mike!)


Lange kann das nicht gut gehen, oder? Ich meine: Traumhaftes Wetter UND Rückenwind? Es kommt wie es kommen muß. Ein paar Kilometer nach dem obigen Foto bleibe ich mit einem doppelten Platten stehen. Vorderrad UND das Rad vom Anhänger. ZUGLEICH!!!! Aus dem Anhängerreifen ragt ein etwa 4 cm langer Glassplitter:


Den Vorderreifen habe ich erst mal ignoriert. Ohne Anhänger kann ich mir den Vorderreifen sowieso sparen. In Brainerd, Minnesota, habe ich mir zwar zusammen mit dem Anhänger auch zwei Ersatzschläuche für den Anhänger gekauft, beide in meiner unerschöpflichen Weisheit jedoch in Chicago zurück gelassen, als ich „überflüssigen Ballast“ abgeworfen habe. (Nein Angie, Du bis damit nicht gemeint.) Na gut, da ist ja immer noch das Flickwerkzeug. Der uralte Kleber klebt sogar noch. Erstaunlich. Aber dann kann ich den Reifen nicht aufpumpen. Neben den Sclaverand-Ventilen des Rades ist auch für das Schrader-Ventil des Anhängers geeignet, aber ICH offenbar nicht. Was ich auch anstelle, ich kann den Reifen nicht aufpumpen. Während ich noch ruhig und gelassen grüble, bleibt ein Pickup stehen.

Die Fahrerin (rechts) kam eben aus Greenville, um ihre Tocher (links) wegen einer Reifenpanne an ihren Fahrrad (!) abzuholen. Schon auf der Herfahrt hat sie mich am Straßenrand gesehen, hielt mich aber offenbar für einen ZEN-Buddhisten bei der Arbeit. Jetzt, eine halbe Stunde später, wollte sie dann doch mal nachfragen, ob … JA, gerne. Ich hätte sowieso ab jetzt den Daumen raus gehalten. „I am stranded“ sage ich „two flats, one pump, no air.“ (das f-wort zwischen “no” und “air” verkneife ich mir).


Rad und Gepäck kommen auf die Ladefläche und ich werde direkt zum Bike Shop in Greenville chauffiert, der nicht nur ein Bike Shop sondern auch ein Schlüsseldienst, Elektronikdienst und überhaupt eine Werkstatt für alles Mögliche ist.


Der Chef, John Harmon begrüßt mich mit den Worten. „You are lucky. I am about to leave and won’t be back until Thuesday.“ Jessas! Wäre ich eine viertel Stunde später angetanzt, hätte ich fast vier Tage warten müssen. Greenville hat den Charme eines offenen Unterschenkelbruches und die nächsten Radläden sind hunderte von Kilometern entfernt.

John Harmon, Besitzer von „Kwik Keys - Bikes Fast Service“ macht dem Namen seines Unternehmens alle Ehre. Innerhalb von 10 Minuten erhält der Vorderreifen einen neuen Mantel samt Schlauch - den faltbaren untersuche ich morgen auf Dornen - der Anhängerreifen bekommt Luft und ich werde stolzer Besitzer einer (RIESIGEN) Luftpumpe, die alles und jedes in Sekundenschnelle auf 6 - 8 Bar aufpumpt. YEAH! Und weil ich grad dabei bin, kaufe ich noch ein neues Flickzeug und 4 Ersatzschläuchen, zwei für das Rad, zwei für den Anhänger. Depp, ich.

Zum Schluß drückt mir John noch seine Visitenkarte mit einer Notfallnummer in die Hand: „If anything happens, give me a call. I will find a way to help you.“ Zum zweiten Mal an diesem Tag bin ich sprachlos.

3 Kommentare:

  1. Opossum, Plural: Opossen. Nix zu danken.

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  2. Dabei gäb es an der Frühstückstanke "Quick chicken and many more good choices" (s. Bild mit Radl).Wenn man natürlich zum Frühstück noch kein schnelle Huhn mag (gschleckert!)...

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  3. Bei Deinen Erzählungen denke ich an meine Pension (die hoffentlich nicht mehr allzu lange aussteht)- so etwas stelle ich mir dann auch vor.
    Bei uns ist heute schönstes Wetter mit ca. 20 Grad gewesen. Nun werde ich mir (sportlich wie ich bin) die Sportschau reinziehen (und in den Pausen an Dich denken - wie Du Dich morgen wieder abstrampeln und den Tag genießen wirst - carpe diem !). Herzliche Grüße, Rudi

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